News

Interview zu Corona-Statistiken - „Ein Grundverständnis ist wichtig“ (Artikel aus dem Weser Kurier)

Thorsten Dickhaus ist Professor für mathematische Statistik an der Bremer Uni. Im Interview erklärt er, warum mathematisches Verständnis wichtig ist, um Corona-Daten richtig zu verstehen.

Herr Dickhaus, dieser Tage ist in Zusammenhang mit der Verbreitung des Coronavirus oft die Rede von exponentiellem Wachstum. Was heißt das eigentlich?

Thorsten Dickhaus: Darunter ist zu verstehen, dass sich ein Ausgangswert in den gleichen Abständen um denselben Faktor vervielfacht. Was das Virus betrifft, bedeutet es, dass mit einem dramatischen und rasanten Anstieg Infizierter zu rechnen ist, deren Zahl sich von Tag zu Tag steiler nach oben entwickelt. Damit unterscheidet sich diese Entwicklung von einem linearen Wachstum, bei der die Größe der Zunahme immer konstant bleibt, beispielsweise stets bei plus 100.

Die Legende um das Schachbrett und das Reiskorn illustriert dieses Wachstum? Ein König gewährt einem Untertan einen Wunsch. Dieser wünscht sich, dass ein Reiskorn auf ein Schachbrettfeld gelegt wird und für jedes weitere Feld die Zahl der Reiskörner verdoppelt wird. Zwei Reiskörner auf das zweite, vier Reiskörner auf das dritte und so weiter. Der König willigt ein, weil er nicht überschauen kann, was das bedeutet. Beim 21. Feld sind es schon über eine Million Reiskörner.

Genau das illustriert das exponentielle Wachstum. Ich habe mir im Frühjahr auch aus wissenschaftlichem Interesse die von der Johns-Hopkins-Universität veröffentlichten Daten zur Verbreitung des Coronavirus angesehen. Da hat man den exponentiellen Anstieg gut erkennen können. Die strengen Maßnahmen, die dann ergriffen wurden, haben den Kurvenverlauf eindeutig verändert und das exponentielle Wachstum unterbrochen.

Einer Ihrer Kollegen, der pensionierte Stochastik-Professor Norbert Henze, spricht im „Spiegel“ davon, dass „Zahlenblindheit und statistisches Analphabetentum“ dem Verständnis für die aktuelle Entwicklung entgegenständen. Ohne eine statistische Grundbildung könne man die Corona-Statistiken nicht verstehen, sagt er, und laufe unter Umständen Gefahr, sich von Demagogen eine 3 für eine 5 vormachen zu lassen. Was halten Sie davon?

Ich will nicht widersprechen. Ein Verständnis für Statistiken, vor allem aber für Zufälle und Wahrscheinlichkeitsrechnung zu entwickeln, ist allerdings nicht so ohne. Das gilt nicht nur für den Laien, der sich damit nicht professionell beschäftigt, sondern auch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Studierende. Um dafür ein Gefühl zu entwickeln, beispielsweise für Schwankungen und Unsicherheiten in bestimmten Betrachtungen oder Modellrechnungen, bedarf es einiger Erfahrung, Routine und Fingerspitzengefühl.

Begegnen Sie dieser Erfahrung und Routine bei den Verantwortlichen in der aktuellen Corona-Debatte?

Ich halte es für sehr wichtig und richtig, dass sich die Bundesregierung von Sachverständigen beraten lässt, die natürlich auch diese Art von Berechnungen anstellen, um die zukünftige Entwicklung zu prognostizieren. Aber auch für Laien ist es wichtig, mit Zahlen, Diagrammen und Statistiken umgehen zu können, um die Lage einschätzen zu können. Das exponentielle Wachstum beispielsweise, das sich aktuell abbildet, müsste dafür sorgen, dass die Bevölkerung versteht, wie schnell die Zahlen explodieren können und wie nahe ihr das Virus damit kommt.

Offenbar gibt es bei allen Zahlen, die derzeit zum Virus erhoben werden, unterschiedliche Interpretationen, von Laien und von Experten.

Das ist richtig, und das ist ein Problem. Wer sich ein vollkommen unabhängiges Urteil bilden wollte, müsste sich die Originaldaten anschauen. Das kann man aber nicht von jedem verlangen. Umso wichtiger ist ein mathematisches Grundverständnis, um die Strukturen zu verstehen, um zu beachten, welche Wechselwirkungen es geben kann, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt.

Die absoluten Fallzahlen sind ein wichtiger Faktor, aber auch die Bezugsgrößen sind von Bedeutung. Dazu gehört beispielsweise, dass man die Zahl der Neuinfizierten ins Verhältnis zu der Anzahl der Tests setzt. Wenn von 100 Tests zehn positiv ausfallen, ist die Lage natürlich kritischer, als wenn es 50 von 1000 Tests sind. Wenn Stichproben-Kennzahlen veröffentlicht werden, muss die Zusammensetzung der Stichprobe klar werden, sonst kann man daraus wenig ableiten.

hr Kollege Henke weist auch auf das sogenannte Simpson-Paradoxon hin, in Zusammenhang mit den Angaben über Todesopfer in Italien und China. In China starben in Bezug auf die gesamte Bevölkerung weniger Menschen als in Italien. Aber in Italien ist die Population älter, das verzerre die Statistik. Können Sie diesen nach einem britischen Statistiker benannten Widerspruch für Laien näher erläutern?

Grob betrachtet, kann man sagen, dass man ganz unterschiedliche und eben auch widersprüchliche Ergebnisse erhalten kann, wenn man ein Phänomen nach Teilgruppen, wie dem Alter, unterscheidet oder wenn man es über alle Gruppen hinweg betrachtet. Man muss sich sozusagen alle Besonderheiten der Teilgruppen genau ansehen, schauen, was womit verglichen wird und alles das in die Gesamtbetrachtung einfließen lassen.

Haben Sie dafür vielleicht ein anschauliches Beispiel parat?

In einer großen deutschen Zeitung wurde vor einiger Zeit unter der Schlagzeile „Methusalems machen Kasse: Ein langes Studium zahlt sich in barer Münze aus“ behauptet, dass lange Studiendauern, also viele Fachsemester Studium, sich positiv auf das Einstiegsgehalt der Absolventinnen und Absolventen auswirken würden. In der Tat sah es bei Betrachten des Gesamtdatensatzes danach aus, als ob die Studiendauer positiv mit der Höhe des Einstiegsgehalts zusammenhängt.

Teilte man diese Gesamtstichprobe indes nach den studierten Fächern auf, so war innerhalb jedes Fachs der Zusammenhang negativ. Das heißt, dass diejenigen, die pro Fach in der Regelstudienzeit fertig geworden sind, im Schnitt ein höheres Einstiegsgehalt erzielen konnten als diejenigen, die – teils beträchtlich – länger gebraucht haben. Die Auflösung dieses zunächst als paradox erscheinenden Phänomens war, dass das generelle Gehaltsniveau zwischen den betrachteten Fächern sehr unterschiedlich gewesen ist.

Werden die Bürger derzeit mit genug Hintergrundwissen ausgestattet, um etwas mit R-Faktoren und Inzidenzwerten anfangen zu können?

Ich persönlich habe den Eindruck, dass sich die Verantwortlichen sehr genau informieren, wie die derzeitigen Zahlen aufzufassen sind. Bei der Vermittlung in die Bevölkerung bleibt das eine oder andere auf der Strecke. Es ist auch schwierig, diese doch sehr komplexen Sachverhalte allgemein verständlich zu erläutern, zumal es derzeit vor allem wichtig ist, den Menschen den Ernst der Lage klar zu machen und um Akzeptanz für die Auflagen zu werben.

Mathematisches Verständnis ist selbstredend nicht nur im aktuellen Zusammenhang mit der Pandemie hilfreich, sondern dient zum Verständnis aller möglichen Statistiken. Teilen Sie den Befund, dass die Schulen dieses Grundverständnis vielen Schülern nicht mehr ausreichend mitgeben können?

Ich kann das schlecht allgemein beurteilen, aber meine persönlichen Erfahrungen in meinem Umfeld bestätigen den Befund.

Wie schätzen Sie als Mathematiker die derzeitige Lage ein, was das Verbreitungspotenzial des Virus betrifft?

Wenn sich die Lage so weiterentwickelt wie bisher, muss man davon ausgehen, dass wir im Dezember Infektionsraten haben, die keiner haben möchte. Das Plus bei den Fallzahlen wird derzeit von einem zum anderen Tag größer – das ist ein Anzeichen für das Einmünden in eine exponentielle Wachstumskurve.

Das Gespräch führte Silke Hellwig.

Das Interview aus dem Weser Kurier finden Sie hier: https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-stadt_artikel,-ein-grundverstaendnis-ist-wichtig-_arid,1939782.html#nfy-reload

 

Prof. Dr. Thorsten Dickhaus