Neuronale Dynamik, Netzzustände und Kritikalität
a) Informationsverarbeitung in Netzen, die sich in einem kritischen Zustand befinden
An der Grenze zwischen regelmäßiger und chaotischer Aktivität weisen kritische Netzwerkzustände interessante dynamische Merkmale auf, wie z. B. eine Potenzgesetz-Verteilung in Bezug auf Größe und Dauer synchroner Ereignisse, und sie bieten ein reiches Repertoire an kollektiven Zuständen, die für die Informationsverarbeitung potenziell nützlich sind. Aber welche Rolle spielt kritisches Verhalten wirklich, wenn das Gehirn aktiv Reizinformationen verarbeitet?
Wir untersuchen diese Frage, indem wir Aspekte der Informationsverarbeitung im visuellen System mit der Dynamik in neuronalen Netzwerken in der Nähe eines kritischen Zustands in Verbindung bringen. Insbesondere konzentrieren wir uns auf Mechanismen, die lokale Merkmale in visuellen Szenen zu globalen Figuren wie Konturen oder Texturen verknüpfen, und bewerten die Bedingungen, unter denen eine nahezu kritische Dynamik die Rechenleistung optimiert. Wir untersuchen auch, wie Top-down-Prozesse die Informationsintegration modulieren: Durch die Integration physiologischer Erkenntnisse mit rechnergestützter Arbeit konnten wir zeigen, dass selektive Aufmerksamkeit das visuelle System auf einen kritischen Zustand abstimmen und dadurch die Stimulusrepräsentation verbessern kann.
(A) Reizunterscheidbarkeit von lokalen Feldpotentialen, die von einem ausgewogenen Netzwerk von Integrations- und Feuerneuronen (farbkodiert) erzeugt werden, in Abhängigkeit von der Kopplungsstärke. Die Unterscheidbarkeit ist in der Nähe kritischer Zustände (blaues Kreuz) maximiert, die durch Potenzgesetze in den Spike-Ereignisverteilungen gekennzeichnet sind (blaue Graphen in Tafel (B)). In unterkritischen (grünes Kreuz) und überkritischen Zuständen (rotes Kreuz) ist die Unterscheidungsfähigkeit viel geringer

b) Vorübergehende Dynamik und Aufmerksamkeitsmodulation im visuellen Areal MT
Die Welt ist ein dynamischer Ort, und zeitliche Veränderungen in einer Szene enthalten wichtige Informationen, die für das Verhalten relevant sind. Auf neuronaler Ebene werden solche Veränderungen häufig durch vorübergehende Aktivitätssteigerungen oder -senkungen dargestellt, bevor sich die Feuerungsraten auf ein dauerhaftes Niveau einpendeln. Unsere Studien zielen darauf ab, die Mechanismen hinter neuronalen Transienten aufzudecken und ihren Einfluss auf die Informationsverarbeitung zu quantifizieren. Dabei arbeiten wir eng mit Detlef Wegener (Institut für Hirnforschung, Universität Bremen) und Jannis Hildebrandt (Fachbereich Neurowissenschaften, Universität Oldenburg) zusammen, um die rechnerische Arbeit eng mit physiologischen Daten zu verknüpfen. Gegenwärtig untersuchen wir einen neuronalen Schaltkreis mit DIVisive INhibition on Excitatory units (DIVINE-Modell - Tafel A), der die Reaktionen einzelner Neuronen und der Neuronenpopulation im Areal MT (Tafel B und C) auf driftende visuelle Reize, die einer abrupten Änderung der Driftgeschwindigkeit ausgesetzt sind, gut erfasst. Wenn die Aufmerksamkeitsmodulation als multiplikative Eingangsänderung zu unserem Modell hinzugefügt wird, stellt sich heraus, dass die Dynamik der Transienten, aber nicht die anhaltenden Zustände, gut mit dem Verhalten korrelieren.

(A) Schematischer Aufbau des DIVINE-Modells. (B) und (C) zeigen zwei beispielhafte Ergebnisse der Anpassung des DIVINE-Modells an experimentelle Daten einzelner Zellen, die auf einen Bewegungsbeginn in einem Gabor-Stimulus reagieren (Daten aus Traschütz A., Kreiter A.K., und Wegener D. (2015) Transient activity in monkey area MT represents speed changes and is correlated with human behavioral performance. J. Neurophysiol. 113: 890-903).