Kritiken des Jurastudiums
Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano, LL.M. (EUI Florenz)
Seminar. ECTS: SG Jura: 12/9
Einzeltermine: Fr. 19.11.21 - Sa 20.11.21, 08:00 - 18:00
Vorbesprechung: 22. Oktober 2021, um 10.00 Uhr s.t. Uhr via Zoom
Zu viel Stoff; falscher Stoff; falsche Lehrformate; falsche Leitbilder; elitäre Exklusionsmechanismen; unmenschliche Prüfungen; psychische Extrembelastung; zu hohe Durchfallquoten mit existenzvernichtender Wirkung: trotz massiver Kritiken erweist sich die Jurist*innenausbildung als reformresistent. Auch am Staatsexamen wagt niemand zu rütteln. Zwar wird bisweilen seine Abschaffung gefordert, doch das Vertrauen ins Staatsexamen bei den Entscheidungstragenden ist so unerschütterlich, dass dieser Anteil laut Initiativen der JuMiKo und des Bundesrats und gegen den Widerstand der Bundesfachschaft sogar noch gestärkt und als Leistungsorientierungspunkt durch den Verzicht auf die Bildung einer Gesamtnote aus Schwerpunkt- und Staatsexamensnote isoliert werden soll.
Seit der Einführung des Schwerpunktbereichsstudiums 2003 hat es keine große Reform des Jurastudiums mehr gegeben. Zwar gab es 2012 einen Bericht des Wissenschaftsrats zur Rechtswissenschaft. Und zwar kam 2016 durch das Grundsatzpapier des von der Justizministerkonferenz beauftragten Koordinierungsausschuss zur Reform der Jurist*innenausbildung etwas Schwung in die Diskussion. Herausgekommen ist bislang aber wenig: Anfang 2021 ein zögerlicher und auf technische Details fixierter Reformentwurf aus dem Bundesjustizministerium (hierzu die Sachverständigenanhörung im Bundestag); und eine Ergänzung von § 5a Abs. 2 DRiG im Jahr 2021, wonach der Passus eingefügt werden soll, dass „die Vermittlung der Pflichtfächer […] auch in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur“ erfolgt. Diese Kleinstreparaturen ändern nichts daran: Das Jurastudium, as it is, muss grundlegend reformiert werden; am besten in einer Reform, in der kein Stein auf dem anderen bleibt. Einige der drängendsten Probleme des Studiums wollen wir im Seminar diskutieren.
1. Ausbildung oder Bildung?
- Lektüre: Rudolf Wiethölter, Anforderungen an den Juristen heute, in: ders., Recht in Recht-Fertigungen. Ausgewählte Schriften von Rudolf Wiethölter, Baden-Baden 2014, S. 525 ff.
- Vertiefung: Stephan Hobe/Barbara Dauner-Lieb, Zukunftsfähig? Die Juristenausbildung in Deutschland, in: Forschung und Lehre 4/2018, S. 226 ff.; Stephan Breidenbach/Ulla Gläßler, Eckpunkte für eine neue Juristenausbildung, Manuskript 2020.
2. Praxis-Theorie-Verzahnung
- Lektüre: Wolfgang Hoffmann-Riem/Alfred Rinken, Die Ausbildung von Juristinnen und Juristen im Widerstreit. Die einstufige Juristenausbildung in Bremen und Hamburg – Rückblick, Reflexion und Ausblick, in: Kritische Justiz (Hg.), Streitbare JuristInnen. Band 2, 2016, S. 589 ff.
- Vertiefung: Rudolf Wiethölter, Didaktik und Rechtswissenschaft, in: Loccumer Arbeitskreis (Hg.), Neue Juristenausbildung, Neuwied 1970, S. 25 ff.; Resolution der Deutschen Gesellschaft für Gesetzgebung: Gesetzgebungslehre als Bestandteil der Juristenausbildung 5.7.2019.
3. Demaskulinisierung
- Lektüre: Dana-Sophia Valentiner, unter Mitarbeit von Carolin Bilawa, Giulia Beeck, Laura Jacobs, (Geschlechter)rollenstereotype in juristischen Ausbildungsfällen, Hamburg 2017.
- Vertiefung: Franziska Brachthäuser, Daddy Issues. Habituelle Beziehungen in der Rechtswissenschaft, in: KJ 2021, S. 284-293; Lucy Chebout, Selma Gather und Dana-Sophia Valentiner, Sexismus in der juristischen Ausbildung – (K)ein Thema für die JuMiKo?!, JuWi ÖR 2017; Kritische Jurist*innen Bern, Diskriminierungsfreie Lehre an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern, Bern 2020.
4. Diversifizierung
- Lektüre: Michael Grünberger, Anna Katharina Mangold, Nora Markard, Mehrdad Payandeh u. Emanuel V. Towfigh, Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021, S. 47-88.
- Vertiefung: Johanna Gusman, Racial Justice: Can American Legal Education Culture Become Anti-Racist? März 2021.
5. Ethos der Staatskritik
- Lektüre: Shaun Ossei-Owusu, Criminal Legal Education, in: American Criminal Law Review 58 (2021), S. 413-428.
- Vertiefung: Susan Sturm/Lani Guinier, The Law School Matrix: Reforming Legal Education in a Culture of Competition and Conformity, in: Vand. Law Review 60 (2007), S. 515 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Vom Ethos der Juristen, Berlin 2010.
6. De-Ökonomisierung
- Lektüre: Gunther Teubner, Rechtswissenschaft und -praxis im Kontext der Sozialtheorie, in: Stefan Grundmann und Jan Thiessen (Hg.), Recht und Sozialtheorie im Rechtsvergleich: Interdisziplinäres Denken in Rechtswissenschaft und -praxis, Tübingen 2015, S. 145-168.
- Vertiefung: Janwillem van de Loo/Marinus Stehmeier, Wieso weshalb warum - bleibt Jura dumm? Perspektiven eines Leitbildes, in: Kritische Justiz 2013, S. 383-395; Andreas Fischer-Lescano, Ironie der Autonomie. Die Rechtswissenschaft im Pakt mit der ökonomischen Macht, in: KJ 2014, S. 414-431.
7. Interdisziplinarität
- Lektüre: Wolfgang Hoffmann-Riem, Zwischenschritte zur Modernisierung der Rechtswissenschaft, JZ 2007, S. 645-696.
- Vertiefung: Dieter Grimm, Notwendigkeit und Bedingungen interdisziplinärer Forschung in der Rechtswissenschaft, in: Stephan Kirste (Hg.), Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften. Ein interdisziplinärer und internationaler Dialog, 2016, S. 21-35.
8. Reflexive Politisierung
- Lektüre: Duncan Kennedy, Politicizing the Classroom, in: Review of Law and Women Studies 1994, S. 81 ff.
- Vertiefung: Alexandra Kemmerer, Ready for Revolution: Roberto Mangabeira Unger on Legal Thought and Legal Education, VerfBlog, 2012/2/03.
9. De-Elitisierung
- Lektüre: Lucille A. Jewel, Oil and Water: How Legal Education’s Doctrine and Skills Divide Reproduces Toxic Hierarchies, in: Columbia Journal of Gender and Law 31 (2015), S. 111 ff.
- Vertiefung: Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), Die Ursachen des Studienabbruchs in den Studiengängen des Staatsexamens Jura Eine Analyse auf Basis einer Befragung der Exmatrikulierten vom Sommersemester 2014, 2017.
10. Reorientierung auf soziale Verantwortung
- Lektüre: Iris van Domselaar, Where were the Law Schools? On Legal Education as Training for Justice and the Rule of Law, in: Netherlands Journal of Legal Philosophy 50 (2021), S. 1 ff.
- Vertiefung: Arnold Rochvarg, Enron, Watergate and the Regulation of the Legal Profession, in: Washburn Law Journal 43 (2003), S. 61 ff.
11. Emotionalisierung
- Lektüre: Susan A. Bandes, Feeling and Thinking Like a Lawyer: Cognition, Emotion, and the Practice and Progress of Law, in: Fordham Law Review 89 (2021), S. 2427 ff.
- Vertiefung: Hans Albrecht Hesse, Über die Rolle des Gefühls im Beruf und in der Ausbildung, in: Jahrbuch Rechtsdidaktik 2018/2019, S. 55 ff.
12. Transnationalisierung
- Lektüre: Andreas Vosskuhle, Das Leitbild des „europäischen Juristen“ – Gedanken zur Juristenausbildung und zur Rechtskultur in Deutschland, in: Rechtswissenschaft 2010, S. 326 ff.
- Vertiefung: Stephan Leibfried u.a., Redefining the Traditional Pillars of German Legal Studies and Setting the Stage for Contemporary Interdisciplinary Research, GLJ 2006, S. 661 ff.
13. Überwindung des Eurozentrismus
- Lektüre: Mohsen Al Attar, Must International Legal Pedagogy Remain Eurocentric, in: Asian Journal of International Law 11 (2021), S. 176-206; Foluke Adebisi, Should We Rethink the Purposes of the Law School? A Case for Decolonial Thought in Legal Pedagogy, in: Amicus Curiae, Series 2, Vol 2, No 3, S. 428-449.
- Vertiefung: Philipp Dann/Felix Hanschmann, Postkoloniale Theorien, Recht und Rechtswissenschaft, in: KJ 2012, S. 127 ff.
14. Einbeziehung historischer Unrechtserfahrungen
- Lektüre: Michael Stolleis, Zur kritischen Funktion der Rechtsgeschichte, HFR 5/2012
- Vertiefung: Denise Dahmen, Juristenunrecht des Nationalsozialismus bald Pflichtstoff im Jurastudium, in: Anwaltsblatt Juni/2021; Benjamin Lahusen, Furchtlose Juristen. Zur jüngeren Vergangenheitspolitik des Bundesjustizministeriums, in: myops 32 (2018), S. 41-50; Christian Baldus, Zwischen Göring und Jhering? NS-Justizunrecht im Studienplan, RW 2021, S. 273-289.
15. Digitalisierung
- Lektüre: Ulla Gläßer, Re-Intellektualisierung durch Digitalisierung? Das Potential von E-Learning-Ansätzen für die Förderung einer ganzheitlichen Juristenausbildung, in: Dauner-Lieb u.a. (Hg.), E-Learning im Jurastudium, 2018, S. 13 ff.
- Vertiefung: Ulrich Müller u.a., Stellungnahme des CHE zur Drucksache 17/12052 „Herausforderungen in der Justiz begegnen. Digitalisierung und Legal Tech in der Lehre vorantreiben. Nachwuchskräfte stärker fördern“ für den Rechtsausschuss des Landtages Nordrhein-Westfalen, 2021.
16. Lehrformen-Reformen
- Lektüre: Otto Lagodny u.a., Fragen des universitären Rechtsunterrichts an die Didaktik, in: Astleitner u.a. (Hg.), Rechtsdidaktik zwischen Theorie und Praxis, 2019, S. 267 ff.
- Vertiefung: Loredana Georgescu, Reformbedarf der Juristenausbildung (+) ? Ein Kommentar zur 12. Soldan Tagung in Bielefeld, ZDRW 2015, S. 304 ff.
SG Jura: Wahlpflichtmodul im Schwerpunkt Grundlagen des Rechts, Leistungsnachweis:§ 31 II Nr. 1 und 4 PO, Blockveranstaltung
Organisatorisches: Die Veranstaltung findet als Blockveranstaltung (Präsenz) statt. Eine Vorbesprechung hierzu findet am 22. Oktober 2021, um 10.00 Uhr s.t. Uhr via Zoom statt. Die Teilnahme an der Blockveranstaltung setzt eine Teilnahme an der Vorbesprechung voraus. Die Zoom-Einladung wird über StudIP ca. eine Woche vor der Vorbesprechung versandt. Bitte melden Sie sich daher bei StudIP zu der Veranstaltung an.