Visuelle Diskurse um Flucht und Asyl

Seit 2014 im Zuge von Flucht und Migration verstärkt Menschen den Weg nach Europa fanden, ist das Thema Flucht und Asyl in den bundesdeutschen Medien überproportional vertreten. In den Jahren 2015 und 2016 fand sich fast keine Ausgabe der deutschen Tageszeitungen, in denen es nicht um die als „Flüchtlingskrise“ bewertete Situation an den europäischen Grenzen und innerhalb Deutschlands ging. Die mediale Berichterstattung prägte unser Bild von den Ereignissen und hatte einen großen Anteil an der Produktion kollektiver Stimmungen (Bsp. ‚Willkommenskultur‘ und ‚Kölner Silvesternacht‘).

Visuelle Diskursanalyse und Visual Anthropology
Mit Hilfe einer an Foucault orientierten Visuellen Diskursanaylse untersuche ich, welche Vorstellungen von Flucht, Migration, Asyl und von geflüchteten Menschen mit den in Tageszeitungen publizierten Bildern evoziert werden. Foucault zufolge sind Diskurse „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“ (Foucault, Archäologie des Wissens, 1981) Dadurch, dass fotografischen Bildern gemeinhin Evidenzcharakter zugeschrieben wird, kommt ihnen bei der Konstruktion von Wirklichkeit ein besonderer Stellenwert zu. Die visuelle Ebene im Diskurs zu erkennen, heißt also zunächst diskursprägende Bildgruppen zu bestimmen und in einem zweiten Schritt das Geflecht von Bildgruppen, Motivhäufungen, die visuellen Ikonen, die Bilder und Gegenbilder, das Sichtbar- und das Unsichtbar gemachte in den Blick zu nehmen und in seinen Bedeutungen, seiner komplexen Komplizenschaft und Widerspenstigkeit zu untersuchen. Gleichzeitig muss die Analyse auch für die sprachlichen Diskurse erfolgen, in denen die Bilder eingebettet sind. Diese beiden Diskursebenen gilt es mit ihrer Vielzahl an interdiskursiven Überschneidungen, Dependenzen, Parallelitäten, Verstärkungen und Widersprüchen zu analysieren und damit sowohl das Feld des Sagbaren als auch das Feld des Darstellbaren zu erschließen.

Blickregime und Grenzregime
In einer ethnografischen Perspektive auf visuelle Diskurse geht es Gilian Rose (2006) zufolge darum, die Blickregime zu untersuchen, die aus der Art und Weise, wie wir etwas abbilden, der Perspektive und der Kontextualisierung entstehen und somit soziale Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse (re)produzieren und stabilisieren. In unseren flüchtigen Bli- cken auf Geflüchtete spiegeln sich also gesellschaftlich wirksame Subjektkonstruktionen und Machtrelationen in einem doppelten Sinne: Wer blickt wie auf wen? Was wird gezeigt? In diesem Forschungsprojekt geht es darum, heraus zu arbeiten, wie sich durch Darstellungskonventionen etablierte Blickregime einerseits und Grenzregime als die gesamte europäische Gesellschaft betreffende soziale Gefüge andererseits wechselseitig ergänzen, bestätigen, reproduzieren, ermöglichen und legitimieren und damit die Blickregime zu immanenten und konstituierenden Bestandteil der Grenzregime werden.

Verschränkung von Raum und Subjektkonstruktionen
Bis zum Frühjahr 2015 gab es eine überschaubare Anzahl an visuellen Verdichtungen, Motivhäufungen und Bildserien. Zentrale und wiederkehrende Motive waren hierin das Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer, die Grenzzäune von Ceuta und Melilla, und Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland. Diese Bilder haben umfassende Prozesse der Ikonisierung durchlaufen. Betrachten wir diese drei diskursiven Verdichtungen in ihrem Zusammenspiel, so wird deutlich, dass der visuelle Diskurs zentral auf immanenten Raumkonstruktionen basiert, in denen das Flüchtlingsboot bis dato für das Außen, die Grenzzäune für die Trennung zwischen dem Außen und dem Innen und die Bilder der Unterkünfte für das Innen standen. Der Blick auf die Raumkonstruktionen ist im Kontext unserer Themas insofern besonders relevant, als es doch tatsächlich bei der zentralen Frage „Wer darf hier herkommen und wer nicht?“ um eine diskursive Verbindung von geografischen mit nationalstaatlichen, ökonomischen, sicherheitspolitischen und ethischen Diskursen geht. Das heißt, die Bilder können auch als verräumlichte und damit quasi naturalisierte Vorstellungen von Dazugehören und Außenvorsein, von Exklusion und Inklusion gelesen werden.


Publikationen
Prekäre Räume - Prekäre Subjekte: Provisorische Behausungen und verwaltete Räume in visuellen Diskursen zu Flucht und Asyl, FKW// Zeitschrift für Geschlechterforschung und Visuelle Kultur,
Heft 1/2018.

Blickregime und Grenzregime. Die Verschränkung von Raum- und Subjektkonstruktionen in visuellen Diskursen der ‚Flüchtlingskrise‘ 2014-2016, in Annette Vowinkel und Gerhard Paul, Arbeit am
Bild, Visual History als Praxis, Wallstein-Verlag, 2017.

Bildsprache – Möglichkeiten und Grenzen einer Visuellen Diskursanalyse, in: Eder, Franz X.; Kühschelm, Oliver; Linsboth, Christina (Hrsg.): Bilder in historischen Diskursen. Wiesbaden 2014, S.
63 – 83.

Bildmuster – Wissensmuster. Ansätze einer korpusbasierten Visuellen Diskursanalyse, in: Siefkes,
Martin, Schöps, Doris (Hrsg.), Neue Methoden der Diskursanalyse, Zeitschrift für Semiotik,
November 2014, Band 35, Heft 3-4/2013, S. 285 – 320.

Bilder der Migration. Das Fotoarchiv des Vereins "Dokumentationszentrum und Museum über die
Migration in Deutschland e.V.", in: Rundbrief Fotografie, Heft 59, September 2008.

Gendered Perspectives on Images of 'Self' and 'Other' in Photography of Labour Migration to
Germany in the 1960s and 1970s. Volume of the 'actes de l´histoire de migration'. "Pictures and
narratives of gender in migration", Ècole normale supérieure, Paris, Oktober 2007.

Kontakt
Dr. Silke Betscher
Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft (IFEK)
Universität Bremen
Enrique-Schmidt-Straße 7
28359 Bremen
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Laufzeit: seit 2014 fortlaufend