(M) Ilse Aichingers frühe Erzählungen

Ilse Aichinger
Ilse Aichinger

In diesem Seminar wollen wir uns mit einer Auswahl früher Erzählungen der Autorin Ilse Aichinger beschäftigen. Dazu gehört beispielsweise die Erzählung „Der Gefesselte“, die von einem Mann handelt, der sich eines Tages beim Erwachen gefesselt vorfindet. Statt zu verzweifeln, meint er, „alle Möglichkeiten im Spielraum der Fesselung“ zu besitzen. Er erlernt „Bewegungen von bestürzender Leichtigkeit“ und wird zur umjubelten Zirkusattraktion: „Manchmal fühlte er sich, als wäre er nicht gefesselt“, so dass ihn der Gedanke, die Fesseln zu verlieren, „in Trauer stürzte“. Sogar im Kampf mit einem Wolf bleibt er siegreich, weil er in seiner Fesselung eine eigene Art von „Freiheit“ erworben hat. Diese „Freiheit“ macht ihm schließlich eine Frau zunichte, die ihm aus Angst um sein Leben die Fesseln durchschneidet. Diese sowie weitere Erzählungen des unten genannten Sammelbandes verdienen ausführliche Besprechung und Interpretation, alles vor dem Hintergrund von Aichingers bemerkenswerter Biographie.

Ilse Aichinger und ihre Zwillingsschwester Helga wurden am 1. November 1921 in Wien geboren. Ihre Mutter war eine jüdische Ärztin, der nicht-jüdische Vater war Lehrer. Nach der Scheidung der Eltern 1927 lebten die Zwillinge bei der Mutter sowie deren Verwandten. Bis zur Schließung durch die Nationalsozialisten 1938 besuchten die Schwestern Klosterschulen; 1939 legten sie am öffentlichen Gymnasium die Matura ab. Helga Aichinger konnte Wien gemeinsam mit ihrer Tante am 4. Juli 1939 mit einem der letzten Kindertransporte nach England verlassen. Die übrige Familie sollte schnellstmöglich nachkommen, was jedoch nach Kriegsausbruch am 1. September 1939 nicht mehr möglich war. Die Mutter verlor ihre Stelle als Schulärztin und wurde während der Kriegsjahre zwangsverpflichtet. Die Großmutter sowie die jüngeren Geschwister der Mutter wurden 1942 nach Minsk deportiert und ermordet. Ilse Aichinger und ihre Mutter überlebten knapp. Da ihnen das Wiener Wohnungsamt nach Ende des Krieges kein Zimmer zuweisen wollte, wohnten sie bis 1947 in der Küche einer Freundin. In dieser Zeit entstand Aichingers erster Roman „Die größere Hoffnung“ (Veröffentlichung 1948). Aichinger hatte direkt nach Kriegsende mit einem Medizin-Studium begonnen, das sie allerdings nach 5 Semestern zugunsten ihres Schreibens abbrach. Ab 1949 arbeitete sie zwei Jahre als Verlagslektorin für S. Fischer; danach war sie zwei Jahre lang Assistentin von Inge Aicher-Scholl an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Ab 1951 nahm Aichinger an den Treffen der Gruppe 47 teil. Dort lernte sie den Autor Günter Eich kennen, den sie 1953 heiratete und mit dem sie zwei Kinder bekam. 1952 gewann sie mit der auch heute noch beeindruckenden „Spiegelgeschichte“ den Preis der Gruppe 47. Von 1956 bis 1993 war Aichinger Mitglied der Akademie der Künste; 1957 wurde sie Mitglied der Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum Deutschland. 1967 unternahm sie eine längere Lesereise in die USA. Nachdem die Familie viele Jahre in Groß Gmain bei Salzburg gelebt hatte, übersiedelte Aichinger 1984 – ihr Mann Günter Eich war 1972 verstorben – nach Frankfurt a. Main. 1989 zog es sie zurück nach Wien, wo sie ab 2000 eine Kolumne für den „Wiener Standard“ und ab 2004 für „Die Presse“ verfasste. Am 11. November 2016 verstarb Aichinger. Ihren literarischen Nachlass hatte sie bereits 2005 an das Deutsche Literaturarchiv Marbach gegeben.

Im Verlauf ihres Schaffens veröffentlichte Aichinger zahlreiche bedeutende Werke wie „Eliza Eliza. Erzählungen“ (1965), „Auckland. Hörspiele“ (1969), „Verschenkter Rat. Lyrik“ (1978) und „Kleist, Moos, Fasane“ (1987). Zudem erhielt sie zahlreiche renommierte Preise wie 1957 den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen, 1971 den Nelly-Sachs-Preis, 1991 den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und 2000 den Joseph-Breitbach-Preis.

 

Literatur:
Ilse Aichinger „Der Gefesselte. Erzählungen I (1948-1952)“. Taschenbuchausgabe hrsg. v. Richard Reichensperger. Frankfurt a. Main: Fischer Verlag 1953/1991.
 


Dozentin:    Dr. Ina Düking

Termine:    5 x montags

  • 17.02., 24.02., 03.03., 10.03., 17.03.2025

Zeit:    14:15 (s.t.) bis 15:45 Uhr

Entgelt:   55,- Euro

Veranstaltungsart: nur Online-Teilnahme

Sie möchten sich anmelden?

[Zur Online-Anmeldung]