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JüL: Von der Notlösung in kleinen ländlichen Schulen zur zukunftsweisenden Basis für soziales Lernen

Studie der Uni Bremen untersucht die Wirksamkeit des Jahrgangsübergreifenden Lernens

Nr. 217 / 24. Juni 2014 RO

Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Voraussetzungen können im Unterricht viel voneinander profitieren – das ist die Idee, die sich hinter dem Kürzel JüL verbirgt. JüL steht für Jahrgangsübergreifendes Lernen und umfasst das Miteinander-Lernen von Kindern aus unterschiedlichen Alters-, Leistungs- und Interessengruppen. Dabei geht es nicht nur darum, dass die Jüngeren von den Älteren lernen. Erst wer etwas Gelerntes anderen erklärt merkt, was er schon verstanden hat. Eine gute Gemeinschaft spielt dabei eine wichtige Rolle. Es verwundert also nicht, wenn für den Deutschen Schulpreis und den internationalen WISE Prize for Education immer wieder Schulen mit Jahrgangsübergreifendem Lernen ausgewählt werden, weil sie nachweislich erfolgreich sind. Demgegenüber behaupten test-experimentelle Wirkungsstudien immer wieder, JüL sei wirkungslos. Grund genug für den Grundschulverband, diesem Widerspruch nachzugehen. Er beauftragte die Bremer Bildungsexpertin Professorin Ursula Carle vom Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Bremen zusammen mit Dr. Heinz Metzen mit der Erarbeitung einer wissenschaftlichen Expertise zum aktuellen Stand der JüL-Praxis und der JüL-Wirkungsforschung.

Das Ergebnis des mehrjährigen Projekts wurde jetzt veröffentlicht. Die Studie belegt, dass mit JüL heute international ein pädagogisch-didaktisches Konzept verbunden wird, das einen umfassenden Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozess erfordert und mit dem Mehrklassen-Provisorium der Nachkriegszeit oder einer Notlösung zur Aufrechterhaltung kleiner Dorfschulen nicht vergleichbar ist. Eine bloß organisatorisch motivierte Klassenzusammenlegung hat wenig mit der Schulreformbewegung des „Jahrgangsübergreifenden Lernens“ zu tun. Deshalb ging es in der Studie zuerst auch um Begriffserklärung: JüL ist ein globales reformpädagogisches Vorhaben zur Überwindung der Nachteile jahrgangshomogenen Lernens und zur Weiterentwicklung der unterrichtlichen und schulischen Potentiale.

Die wichtigsten Ergebnisse

Für die Studie wurden rund 2000 Quellen ausgewertet, darunter Praxisberichte, Materialien der Schulbegleitforschung, Evaluationsstudien sowie testbasierte Untersuchungen vor allem im deutsch- und englischsprachigen Raum. Hier eine knappe Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse:

1. JüL ist ein Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozess und keine Unterrichtsmethode. Es wirkt also durch die professionellen und strukturellen Entwicklungsprozesse.

2. JüL zielt auf das Miteinander- und Voneinanderlernen von Kindern unterschiedlichen Alters. Es zu entwickeln erfordert ein klares Bild davon, was JüL ist, und folglich eine klare Vorstellung von den wichtigsten Wirkfaktoren auf die Lernprozesse der Kinder.

3. Das Prozessmodell der JüL-Entwicklung umfasst alle Ebenen vom Lernen der Kinder über die Unterrichtsgestaltung, die Schulstruktur bis hin zum Schulsystem. Entscheidend ist die Nachhaltigkeit der Entwicklungen auf allen Ebenen.

4. Die JüL-Entwicklung erfordert eine Veränderung tief verwurzelter Überzeugungen: Weg von homogenisierenden Vorstellungen hin zu Sichtweisen einer Pädagogik der Vielfalt. Mit Verständnisproblemen und Ängsten ist also zu rechnen.

5. JüL-Entwicklung benötigt hinreichende Unterstützung, die auf die Ausgangslage der Schule und der einzelnen Lehrkräfte eingeht, auf die Interaktionsprozesse, die Routinen, Strukturen und die zur Verfügung stehenden Ressourcen.

JüL – ein Modell mit Zukunft?

Die Bremer Bildungsexperten kommen in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass eine Weiterentwicklung von JüL durch Bildungsverantwortliche, Lehrkräfte sowie Pädagoginnen und Pädagogen eine zukunftsweisende Bedeutung zukomme, da das Konzept aufgrund der positiven schulischen Erfahrungen ein großes pädagogisches und didaktisches Potenzial aktivieren kann. Dies kommt allerdings erst durch eine langfristig angelegte Unterrichts- und Schulentwicklung zum Tragen. Dagegen kommt es nach einer organisatorischen Umstrukturierung alleine nicht zur Geltung. Das ist auch ein Grund für die negativen Wirkungsaussagen zum JüL aus testexperimentellen Studien. Diese legen in der Regel weder den Entwicklungsstand des Jahrgangsübergreifenden Lernens der untersuchten Schulen offen, noch berücksichtigen sie die Komplexität von JüL. Es bleibt folglich unklar, was untersucht wurde oder es wird auf der Grundlage der Untersuchung eines winzigen Ausschnittes das Gesamte bewertet.

Die veröffentlichten Schlussfolgerungen dieser Studien lassen sich nach Analyse der Bremer Wissenschaftler empirisch kaum nachvollziehen. Sie sehen einen erheblichen Entwicklungsbedarf. „Nur wenn es der Wirkungsforschung gelingt, sich methodisch und inhaltlich der schulischen Realisierung und der theoretischen Fassung des JüL stärker anzunähern, kann ihr eine ernstzunehmende Stimme zugestanden werden“, erklärt Professorin Ursula Carle.

Insgesamt bietet die Expertise einen reichhaltigen Überblick über die anspruchsvollen Ziele und die aufwendigen Wege hin zu JüL. Zugleich ist sie ein Lehrstück für die Grenzen der vorherrschenden testexperimentellen Bildungsforschung und für den anstehenden Entwicklungsbedarf hin zu einer entwicklungsförderlichen Schulbegleitforschung. Die Kurzfassung der Expertise ist zu finden unter: www.grundschulverband.de. Die Langfassung der Expertise kann unter der E-Mail infoprotect me ?!grundschulverbandprotect me ?!.de angefordert werden.

Weitere Informationen:

Universität Bremen
Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften
Prof.Dr. Ursula Carle
Tel.: 0421 218 69220
E-Mail ucarleprotect me ?!uni-bremenprotect me ?!.de
www.grundschulpaedagogik.uni-bremen.de/personen/carle.html