Detailansicht

Wie ein mutiger Fotograf die Spitzel bespitzelt

Zwischen Polstermöbeln und Stehlampen spielt die Schauspielerin Vlasta Chramostová im Wohnzimmertheater Shakespeare, Pavel Kohout eröffnet privat in seinem Haus eine Kunstausstellung, und das konspirative philosophische Seminar findet auf der grünen Wiese statt. Der Ausnahmefotograf Ivan Kyncl hat…

Dabei sind ihm erstaunliche Aufnahmen mit einer fesselnden Ästhetik und dokumentarischen Dichte gelungen. Die Forschungsstelle Osteuropa der Universität besitzt die wertvollen Zeitdokumente und hat sie zu einer Ausstellung zusammengestellt. Beteiligt sind das Nationalmuseum Prag und das Mährische Landesmuseum Brünn. Finanzielle Unterstützung kam unter anderen von der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur und vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds aus Prag. Mehr als 200 Exponate – Fotos und Dokumente – sind bis zum 17. August in der Unteren Rathaushalle zu sehen und werden später zu den Kooperationspartnern auf Tour gehen.

Neues Sujet geschaffen

Ivan Kyncl, der bereits 2004 in London verstarb, hatte in den 1970er-Jahren Zugang zur Szene der Charta 77, der ersten mutigen Bürgerrechtsinitiative des Landes nach der Niederschlagung des Prager Frühlings. Sein Vater, Karel Kyncl, war Journalist und Dissident und öffnete so seinem Sohn die Türen. „Der Fotokünstler zeigt die Verfolgung einer marginalisierten Gruppe durch die Staatssicherheit im Prag der 1970er-Jahre“, sagte Professorin Susanne Schattenberg, Leiterin der Forschungsstelle Osteuropa zur Eröffnung. „Er wurde somit zu einem bekannten Fotografen der Charta 77“. Kuratorin Dr. Heidrun Hamersky erläuterte: „Es gibt in dieser Form nichts Vergleichbares aus osteuropäischen Ländern. Kyncl hat in der Geschichte der Fotografie des 20. Jahrhunderts ein neues Kapitel geschrieben, indem er ein eigenes Sujet geschaffen hat.“

Schwejksche Dimension

Und das war, die Fotos verdeutlichen es, die trickreiche Bespitzelung der Spitzel. Immer neue Methoden erfand der damals 24-Jährige für dieses Katz-und-Maus-Spiel. In einer Zeit, in der zwar die Menschenrechte in Helsinki offiziell bekräftigt wurden, konnte er zeigen, dass sie im realen Sozialismus eben nicht galten. Aufwühlende Aufnahmen von Häftlingen, von unmenschlichen Gefängnissen, von einem prügelnden Wärter, von offener Bespitzelung wollen in der Ausstellung entdeckt und dekodiert werden. Viele der Schwarzweiß-Motive geben erst auf den zweiten Blick ihr Geheimnis preis. Etwa wenn ein Dissident im Café Slavia mit einer minimalistischen Handbewegung auf den Tisch hinter ihm zeigt, an dem der Lauscher der Staatssicherheit die Ohren spitzt. Das hat geradezu schweijksche Diimension.

Essenz auf den Punkt gebracht

Die Ausstellung zeigt noch andere Facetten des Prager Künstlers, der 1980 vom Regime ins Exil gezwungen wurde. Atemberaubende Theaterfotografien sind darunter, in denen er als Freund des englischen Autors Harold Pinter „die Essenz eines Stückes auf den Punkt bringen konnte“, wie es Kuratorin Hamersky treffend beschrieb. Kyncls Witwe und Arbeitspartnerin, Alena Melichar, hatte 2010 den fotografischen Nachlass ihres Mannes der Forschungsstelle Osteuropa übergeben. Sie war zur Eröffnung anwesend und sagte zur Kombination von Kunst und Politik: „Er war politisch, ja, aber nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen.“ Das kann der aufmerksame Betrachter in den Bildern wiederfinden.

Die Ausstellung in der Unteren Rathaushalle ist täglich von 11 bis 18 Uhr geöffnet, der Eintritt ist frei. Zur Ausstellung ist ein klug gemachter, lesenswerter dreisprachiger Katalog mit einem Vorwort von Hans-Dietrich Genscher erschienen.

www.forschungsstelle.uni-bremen.de

 

 

Blick des Fotografen aus einem Wohnhaus in den gegenüberliegenden Hof des Frauengefängnisses Opava.
Untergrund-Universität: Seminar im Freien mit Professor Radim Palous.
Kyncl als Theaterfotograf: Szene aus "Schrecklicher Mund" von Howard Baker, Almeida Opera London 1992