Der Vortrag von ZeMKI-Mitglied Prof. Dr. Rainer Stollmann zum Anlass der Ausstellung des Focke-Museums „Till Eulenspiegel in Bremen“ in der Lloyd-Passage 5 ab 1. September statt.
Der Vortrag behandelt folgende Themen:
Der russische Kulturforscher Michail Bachtin (1895 – 1975) spricht von einer „jahrtausendealten karnevalistischen Volkskultur“, die mit der Erfindung des Ackerbaus ihren Anfang nahm. Niedersächsische Bauern sagen heute noch, wenn sie Gülle ausbringen: „Gehen wir mal den Acker kitzeln,“ d.h. die Natur zum „Lachen“ (Blühen, Frucht tragen) bringen. Dieser agrarische Optimismus ist eine Aufklärung vor der Aufklärung. Sie ist nicht unmittelbar auf Vernunft, sondern auf das Lachen gerichtet, das gegen die mittelalterliche Angst gerichtet ist. Wenn Immanuel Kant vom „Mut“ spricht, den man braucht um selber zu denken, so hätte er auf diese orale groteske Lachkultur zurückgreifen können, wenn er sie gekannt hätte.
Vom Mittelalter sagt der Soziologe Norbert Elias, es sei „die Herrschaft von Räuberbanden“ gewesen. Das mag objektiv zutreffen. Subjektiv, den Wünschen nach, als Ideal aber war der Feudalismus ein Treueverhältnis wie eine gute Ehe oder Freundschaft. Man tauscht Treue gegen Treue, es wird nicht betrogen. Der Herr schützte seinen Vasallen, dafür war der abgabepflichtig. Konnte oder wollte der Herr nicht schützen, so durfte sich der freie Bauer, der ja kein Sklave war, einen anderen Herrn suchen. Um die Wiederherstellung dieses Treueverhältnisses ging es noch den Bauern im sog. Bauernkrieg.
Seit dem 11. Jahrhundert erodierte in den sich entwickelnden Städten dieses Prinzip einer personalen Treue-Gefolgschaft. Marx spricht davon, dass der „Tauschwert kein Atom Gebrauchswert“ besitze, d.h. er ist vollkommen gleichgültig gegenüber dem Gebrauchswert. Ein schlauer Unternehmer achtet darauf, was beim Geschäft hinten herauskommt, egal ob er Milch oder Maschinengewehre verkauft. Wie mächtig der gegenüber menschlichen Treuebeziehungen gleichgültige Frühkapitalismus im Lauf der Jahrhunderte wurde, sieht man im 15./16. Jahrhundert an den Fuggern. Sie konnten sich einen Kaiser kaufen und die Söldner gegen die aufständischen Bauern finanzieren.
Von Marx stammt auch der Gedanke, dass „Kapitalismus und Feudalismus eine Epoche“ ist. Der Kapitalismus kann sich nämlich von Treuebeziehungen nicht trennen, sie sind seine Voraussetzung: Das Urvertrauen, mit dem Kinder auf die Welt kommen, die bis heute unbezahlte elterliche Erziehungsarbeit aus „Liebe“; aber auch alle menschlichen Beziehungsverhältnisse, die in Betrieben und Verwaltung das gesellschaftliche Leben wirklich in Gang halten. Der Kapitalismus ignoriert, daß er auf solche Treuebeziehungen angewiesen ist. Eulenspiegels Name charakterisiert das Verhältnis des Kapitalismus zum Feudalismus. Es ist ein niederdeutscher Name, der – wie sich zeigen wird – dieses Verhältnis auf drastisch-sinnliche Weise illustriert und seinen Widerspruch offenlegt. Eulenspiegel (aber auch z.B. Don Quijote undRabelais' Gargantua und Pantagruel) ist ein Phantasiegefäß, das diesen Widerspruch auf alle möglichen Weisen an groteske oder absurde Enden führt. Wie jeder ernsthafte Theoretiker ist er auf seinem Pferd ein Prinzipienreiter der Aufklärung, der zeigen will: So wie es ist, kann es nicht bleiben. An den vier Eulenspiegel-Geschichten, die in Bremen spielen und alle Stände treffen, zeigt sich das besonders. Es gibt den Satz: „Die Kriege werden erst aufhören, wenn die Menschen anfangen, sich vor den Waffen zu ekeln.“ Aus diesem Grund muss die bürgerliche um die bäuerliche und plebejische Aufklärung ergänzt werden.