PD Dr. habil. Wiebke Loosen
Neue Akteure, neue Beziehungen – Journalismus und (sein) Publikum
Einleitung – oder: „Wer hat Angst vorm Publikum? Niemand! Und wenn es kommt?
Durch Internet und soziale Medien verändert sich das Verhältnis von Journalismus und Publikum: Neue Formen der Publikumsbeteiligung und gewandelte Inklusionsansprüche von Nutzerinnen und Nutzern führen zu Verschiebungen zwischen den tradierten Sender- und Empfänger-Rollen zwischen professioneller und nicht-professioneller Aussagenentstehung. Was in dieser Form vergleichsweise nüchtern klingt, sorgt im praktischen Journalismus seit einigen Jahren für erhebliche organisatorische Veränderungen in Redaktionen, aber auch für Verunsicherungen, denn in sozialen Medien begegnen sich Journalisten und Nutzer auf noch immer ungewohntem Terrain.
Einsteigen möchte ich mit einigen Schlaglichtern auf für dieses Thema einschlägige Literatur, mit der sich gut verdeutlichen lässt, welchen Weg die Beziehung zwischen Journalismus und Publikum durchlaufen hat und noch durchläuft – und wie die Forschung dies beobachtet. So haben Ende der 1960er Jahre Glotz/Langenbucher (1993, zuerst 1969) noch vom „missachteten Leser“ gesprochen; das war, wenn man so sagen will, die „Kampfvokabel“ in den 1970er Jahren, die deutlich machen sollte, dass der Journalismus sich zu wenig um Bedürfnisse und Erwartungen seines Publikums kümmere. Verbunden war sie mit der Forderung, dass Journalistinnen und Journalisten ihre Ingroup-Orientierung, also die Orientierung an den eigenen Kollegen und deren Vorstellungen von gutem Journalismus zugunsten einer stärkeren Orientierung an den Bedürfnissen ihres Publikums ein Stück weit aufgeben müssten.
40 Jahre später diagnostizieren Meyen/Riesmeier (2009) dann eine „Diktatur des Publikums“ – abgeleitet aus zahlreichen Interviews mit Journalistinnen und Journalisten. Der Journalist Arno Frank (2013) spricht in einem kritischen Essay vom Publikum als „Meute mit Meinung“. Er macht hierbei die interessante Beobachtung, dass viele Aufgeregtheiten im Netz und mangelnde Diskursqualität auch damit zu tun hätten, dass vielen Menschen nicht mehr bekannt sei, was Abonnenten einer bestimmten Zeitung wüssten, nämlich, „dass sie zu bestimmten Themen eher in der FAZ als in der taz etwas lesen werden (und umgekehrt)“ (ebd. : 20). Die Entbündelung von Medienangeboten, wie sie durch die Verbreitung von Nachrichten über soziale Medien entsteht, führt also möglicherweise auch dazu, dass wir von journalistischen Angeboten, von der Ausrichtung einer Redaktion, keine rechte Vorstellung mehr haben.
Im Jahr 2013 haben Pablo J. Boczkowski und Eugenia Mitchelstein (2013) die Studie The News Gap vorgelegt, welche die klassische Frage nach dem Zusammenhang zwischen journalistischen Relevanzkriterien und Publikumspräferenzen unter den gewandelten Vorzeichen des Internets aufgreift. Ihre Frage: Was sind die Top-Artikel auf Websites amerikanischer Tageszeitungen und was sind die meist geklickten, geteilten und kommentierten Artikel? Ermittelt haben sie eine recht hohe Differenz zwischen den Informationspräferenzen von Journalisten und ihrem Publikum. Allerdings schrumpft diese Differenz in politisch aktiven Zeiten, wie dies zum Beispiel bei anstehenden Wahlen der Fall ist, denn dann ist auch auf Publikumsseite ein höheres Informationsbedürfnis vorhanden. Wie groß der News Gap zwischen Journalisten und Publikum ist, hängt also stark von der jeweiligen Nachrichtenlage ab, er ist nicht statisch. Hinzu kommt, dass es für viele Journalistinnen und Journalisten geradezu als professionelle Verpflichtung betrachtet wird, ihrem Publikum auch diejenigen gesellschaftlich relevanten Themen zu präsentieren, für die sie ein eher geringeres Publikumsinteresse unterstellen: Sie kalkulieren einen News Gap also von vornherein mit ein.
Für die Kommunikationswissenschaft ist das Thema Journalismus und Publikum zudem mit dem Umstand verbunden, dass wir sozusagen eine Trennung der Disziplin in der Disziplin beobachten können: Das heißt, Journalismusforscher und -forscherinnen, kümmern sich vor allem um die Produktionsseite des Journalismus und um seine Akteure, während Rezeptionsforscher sich um die Publikumsseite und um Mediennutzung kümmern. Diesen Umstand haben der Kollege Marco Dohle und ich zum Anlass genommen, einen Sammelband mit dem Titel Journalismus und (sein) Publikum (2014) herauszugeben. Er versucht, diese Trennung ein Stück weit zu überwinden und schaut zu diesem Zweck auf die Schnittstellen zwischen Journalismusforschung und Rezeptionsforschung. Eine unserer Überlegungen war: Wenn Journalisten zunehmend gezwungen sind, mehr und anders über ihr Publikum nachzudenken, dann sollte auch Journalismus-, Publikums- und Rezeptionsforschung prüfen, bei welchen Befunden, Ansätzen und Theorien man voneinander lernen kann.
Noch aktueller ist schließlich eine Studie, die der Journalist Fritz Wolf für die Otto Brenner Stiftung durchgeführt hat: Wir sind das Publikum (2015). Hier kann man schon am Titel die Zuspitzung der Debatte erkennen, denn in dieser Publikation geht es um den „Autoritätsverlust der Medien“ und einen „Zwang zum Dialog“, den der Verfasser ausmacht.
Die sich wandelnde Beziehung zwischen Journalismus und (seinem) Publikum ist aber nicht nur ein Thema von Journalisten beobachtern, sondern vor allem auch eine des Journalismus selbst. 2014 hat beispielsweise die Schweizer TagesWoche das ausgemachte wachsende Misstrauen gegen die Medien zum Anlass genommen, ihre Leser nach ihren Einschätzungen zu „5 Thesen zum Misstrauen gegen die Medien“ zu befragen – und kommt vor dem Hintergrund der eingegangen Antworten zu dem Schluss: „Das Publikum weiß mehr als wir“. Und das ist nur ein Beispiel – viele andere Redaktionen haben das Thema in ähnlicher Weise aufgegriffen.
Jenseits dieses Beispiels aus dem klassischen, etablierten Journalismus, beobachten wir aber zunehmend auch das Aufkommen sogenannter journalistischer Start-ups – sie starten häufig schon konzeptionell mit einer anderen Beziehung zu ihrem Publikum. Im letzten Jahr ist beispielsweise Krautreporter mit Mitteln aus Crowdfunding gegründet worden. Jetzt, nach einem Jahr, soll Krautreporter zu einer Genossenschaft umgewandelt werden. Ein weiteres Beispiel ist das neue Angebot piqd, das eine durch Experten vorgenommene Kuratierung von anderswo publizierten Beiträgen anbietet. Hier spricht man zum Beispiel auch nicht vom Publikum, sondern von „Mitgliedern“:
„Wir wollen zu einer informierten Öffentlichkeit im Netz beitragen. piqd ist der Gegenentwurf zu den reichweitenoptimierten Algorithmen sozialer Netzwerke. Was relevant ist, bestimmen bei uns ausschließlich unsere Kuratoren und Mitglieder. Wir verstehen uns als eine Art Programmzeitung für das gute Netz.“
Kommentarkultur „auf höchstem Niveau“ will man übrigens dadurch sicherstellen, dass man nur zahlenden Mitgliedern Kommentarrecht einräumt. Bei der Mitgliedergebühr in Höhe von drei Euro monatlich gehe es aber weniger um das Geld, als darum „Trolle fernzuhalten“ (ebd.). Gezahlt wird hier also nicht für Inhalte, sondern für einen Mitgliederstatus, der einem das Kommentieren ermöglicht.
Journalismus und (sein) Publikum: Illustrierende Befunde aus der empirischen Forschung
Die bis zu dieser Stelle skizzierten Entwicklungen sollten vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass Journalismus und Publikum schon traditionell eine komplizierte, fast schon paradoxe Beziehung miteinander verbindet. So ist zwar auf der einen Seite unbestritten, dass der Journalismus ein Publikum braucht, denn ohne ein Publikum, das journalistische Kommunikationsofferten annimmt, gäbe es keinen Journalismus. Auf der anderen Seite jedoch, spielt(e) das Publikum in der alltäglichen Redaktionsroutine eine eher untergeordnete Rolle. Noch Ende der 1990er Jahre galt die Annahme, dass das Publikumsbild von Journalisten unter den Bedingungen der Massenkommunikation „notgedrungen weitestgehend unabhängig von direkten Erfahrungen und Interaktionen“ (Scholl/Weischenberg 1998: 125, Fußnote 22, kursiv im Original) entsteht. Diese Kommunikationsbedingungen basieren auf der klassischen Unterscheidung von Individual- und Massenkommunikation, von Kommunikator und Rezipient sowie von Aussagenproduktion und Aussagenrezeption. Damit sind allerdings Verhältnisse charakterisiert, die auf sozialmediale Formen öffentlicher Kommunikation (im Internet) nur noch bedingt zutreffen. Formen der Publikumsbeteiligung, wie sie zum Beispiel in sozialen Medien wie Facebook und Twitter sowie in Kommentarbereichen journalistischer Online-Medien möglich geworden sind, sind neue wichtige Quellen geworden, welche auch das Bild vom Publikum auf Seiten des Journalismus prägen und die Interaktionsformen zwischen beiden Gruppen deutlich erweitern (Loosen 2013).
Diese Überlegungen standen am Anfang des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojekts Die (Wieder-)Entdeckung des Publikums. Journalismus unter den Bedingungen des Web 2.0, welches ich am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung gemeinsam mit dem Kollegen Jan-Hinrik Schmidt von Ende 2011 bis Mitte 2014 geleitet habe. Ziel war es, methodisch vielfältig zu untersuchen, wie der professionelle, redaktionell organisierte Journalismus partizipative Elemente in sein Angebot integriert und welche Erwartungen und Erwartungserwartungen (also z.B. Erwartungen, die Journalisten über die Erwartungen ihres Publikums haben) hierbei auf Seiten der Journalisten und des Publikums eine Rolle spielen. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie journalistisch-professionelle Orientierung und Publikumsbeteiligung wechselseitig aufeinander wirken (Loosen/Schmidt 2012). Dazu haben wir insgesamt vier Fallstudien in journalistischen Redaktionen durchgeführt, die drei Kontrastdimensionen abdeckten:
1. TV- versus Print-Redaktionen/-Angebote inklusive ihrer entsprechenden Online-Pendants;
2. nachrichtlich versus unterhaltend ausgerichteter Journalismus;
3. wöchentliche versus tägliche Erscheinungsweise.
Sowohl für die journalistischen Anbieter als auch für die Publika wurden jeweils partizipative Leistungen (z.B. in Form der partizipativen Angebote, die eine Redaktion ihrem Publikum macht) und Erwartungen an Formen der Publikumsbeteiligung und an den Journalismus erhoben, um in der Kombination das jeweilige Ausmaß der Publikumsintegration (d.h. des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage von Formen der Publikumsbeteiligung) sowie das Ausmaß der Übereinstimmung der jeweiligen Erwartungen auf Journalismus- und Publikumsseite ermitteln zu können. Hier möchte ich zwei Ergebnisse herausgreifen, die illustrieren können, zu welcher Art von Befunden man mit solch einer Fragestellung und einem Untersuchungsdesign gelangen kann, das sowohl die Journalismus- als auch die Publikumsseite berücksichtigt. Dabei handelt es sich um Ergebnisse der Fallstudie Süddeutsche Zeitung, die auf Befragungen von SZ-Journalisten und Nutzern von sueddeutsche.de zurückgehen (Heise et al. 2014).
Eine zentrale Frage betrifft die nach dem Vergleich von journalistischem Selbst- und Fremdbild: Wir haben auf der einen Seite in einer Redaktionsbefragung SZ-Journalistinnen und -Journalisten gefragt, worum es ihnen in ihrem Beruf geht, und auf der anderen Seite Publikumsmitglieder, welche Aufgaben Journalisten, die für die Süddeutsche Zeitung arbeiten, ihrer Ansicht nach vorrangig erfüllen sollten. Hierbei waren insgesamt 19 Items vorgegeben, die auf einer Skala von 1 („stimme überhaupt nicht zu“) bis 5 („stimme voll und ganz zu“) bewertet werden sollten. Tabelle 1 dokumentiert das Ergebnis: Für Journalismus- und Publikumsseite sind jeweils die Mittelwerte zu den einzelnen Items dargestellt; sortiert sind sie aufsteigend nach der Größe der Differenz der Mittelwerte zwischen beiden Gruppen.
Deutlich wird, dass der Vergleich von journalistischem Rollenselbstbild und dem Rollenfremdbild, das die befragten Nutzer von Journalisten der Süddeutschen Zeitung haben, eine recht hohe Übereinstimmung zeigt: 14 der insgesamt 19 abgefragten Items weisen eine Mittelwertdifferenz unterhalb von 0,5 Skalenpunkten auf. Die höchste Differenz beträgt 0,65 (Item 19 = „sich auf Nachrichten konzentrieren, die für ein möglichst breites Publikum interessant sind“) und liegt damit immer noch deutlich unterhalb von einem Skalenpunkt. Doch auch wenn die Unterschiede beim Selbst- und Fremdbild insgesamt recht gering ausfallen, so liegen doch sieben höchst signifikante Unterschiede zwischen beiden Gruppen vor (vgl.Tab. 1, Items 13 bis 19 – gekennzeichnet mit ***).
In vier dieser Fälle betrachten die Journalisten etwas eher als Teil ihrer professionellen Aufgabe, als es dies in den Augen ihres Publikums der Fall ist bzw. sein sollte (positive Mittelwertdifferenz); in den übrigen drei Fällen (negative Mittelwertdifferenz) ist es umgekehrt.
Tab. 1: Fallstudie Süddeutsche Zeitung: Kongruenz von journalistischem Selbst- und Fremdbild
Das Ausmaß der Kongruenz von journalistischem Selbst- und Fremdbild lässt sich auch visualisieren – dann ist auf einen Blick leicht zu erkennen, in welchen Punkten Einschätzungen von Journalisten und Publikumsmitgliedern dicht beieinander liegen oder differieren (vgl. Abb. 1): Punkte, die auf der diagonalen Linie liegen, stehen für Items, die auf beiden Seiten ähnlich eingeschätzt werden; liegen sie rechts oben, wird den jeweiligen journalistischen Aufgaben eher zugestimmt, liegen sie links unten, ist das eher nicht der Fall. So lässt sich erkennen, dass die drei wichtigsten Aufgaben, die SZ-Journalisten für sich benennen, klassisch-journalistischer Natur sind: komplexe Sachverhalte erklären und vermitteln (Item 10), Kritik an Missständen üben (Item 8) und das Publikum möglichst neutral und präzise informieren (Item 11). Und genau dies sind auch in den Augen ihres Publikums die drei als am wichtigsten erachteten journalistischen Aufgaben. Ähnlich übereinstimmend, allerdings ablehnend, äußern sich beide Seiten zu dem Item „den Nutzern/Lesern ermöglichen, soziale Beziehungen untereinander zu pflegen“ (Item 2): Diese (potenzielle) Aufgabe wird von den befragten Publikumsmitgliedern deutlich am stärksten abgelehnt. Die SZ-Journalisten lehnen sie in etwa gleichem Maße wie die (potenzielle) Aufgabe ab, Möglichkeiten zur Veröffentlichung nutzergenerierter Inhalte zu schaffen (Item 15); dies wird von den Publikumsmitgliedern zwar weniger stark, doch immer noch deutlich abgelehnt.
Bei vier journalistischen Aufgaben zeigt sich vergleichsweise deutlich, dass es Journalisten – stärker als die befragten Publikumsmitglieder es von ihnen erwarten (Items rechts von der diagonalen Linie) – als ihre Aufgabe betrachten, sich auf Nachrichten zu konzentrieren, die für ein möglichst breites Publikum interessant sind (Item 19), dem Publikum Unterhaltung und Entspannung zu bieten (Item 18), dem Publikum Gesprächsstoff zu liefern (Item 16), Lebenshilfe zu bieten und als Ratgeber zu dienen (Item 14). Umgekehrt erwartet das Publikum noch stärker als Journalisten dies selbst als Teil ihrer Aufgabe betrachten (Items links von der diagonalen Linie), dass SZ-Journalisten Politik, Wirtschaft und Gesellschaft kontrollieren (Item 17).
Entsprechende Daten haben wir auch für die (redaktionsseitig unterstellte) Bedeutung, die partizipative Angebote für das SZ-Publikum haben (vgl.Tab. 2 sowie Abb. 2). Hier wurde auf Publikumsseite gefragt, als wie wichtig verschiedene Formen der Publikumsbeteiligung eingeschätzt werden. Diese Daten wurden mit den Einschätzungen von Journalisten kontrastiert, die danach gefragt wurden, wie wichtig diese Formen der Publikumsbeteiligung ihrer Ansicht nach für ihre Leser/Nutzer sind.
Tab. 2: Kongruenz von (Erwartungs-)Erwartungen an Inklusionsangebote der Süddeutschen Zeitung
Die Items sind sortiert nach der Größe der MW-Differenz D. Die Skalen reichten jeweils von 1 („völlig unwichtig“) bis 5 („sehr wichtig“). Die Skala im Publikumsfragebogen wurde dafür nachträglich umgepolt. „Weiß nicht / kann ich nicht sagen“ wurde für die Mittelwertberechnung nicht berücksichtigt. Markierte Mittelwertunterschiede sind signifikant mit * p<.05, ** p<.01, *** p<.001.
Schon der erste visuelle Eindruck von Abbildung 2 verdeutlicht, dass Journalisten die Erwartungen ihres Publikums an Beteiligungsmöglichkeiten überschätzen: Sie unterstellen ihrem Publikum in Bezug auf nahezu alle abgefragten partizipations- beziehungsweise transparenzorientierten Leistungen einen stärkeren Beteiligungswunsch, als es die Nutzer selbst für sich angeben (= positive Mittelwertdifferenz und eine Lage der Datenpunkte rechts unterhalb der Diagonalen). Die Differenz beträgt fast ausnahmslos über 0,5 und in vielen Fällen über einen Skalenpunkt, was einer vergleichsweise hohen Differenz entspricht.
Einzige Ausnahme ist hier ein Aspekt, der Quellentransparenz betrifft: Die befragten Publikumsmitglieder erwarten deutlich stärker, zusätzliche Informationen und Verweise zu den Quellen einer Geschichte zu erhalten (Item 7), als die befragten Journalisten dies vermuten: Dies ist das einzige Item mit einer negativen Mittelwertdifferenz, die besagt, dass die befragten SZ-Journalisten diese Erwartung ihres Publikums unterschätzen. Das ist ein Befund, den wir so auch in unseren anderen drei Fallstudien (Tagesschau, ARD-Polittalk, Der Freitag). Bei den übrigen Items ist die Differenz von (Erwartungs-)Erwartungen besonders ausgeprägt hinsichtlich der Präsenz der Redaktion auf Netzwerkplattformen (Item 12), dem öffentlichen Zeigen seiner Verbundenheit mit der Süddeutschen Zeitung (Item 14) sowie der Möglichkeit, inhaltlich über Themen der Süddeutschen Zeitung diskutieren zu können (Item 15). Die befragten Journalisten vermuten zudem, dass es ihren Nutzern am wichtigsten sei, ernst genommen zu werden (Item 13). Für die Publikumsmitglieder wiederum ist dies zwar – nach der Quellentransparenz und gleichauf mit der Erwartung, Inhalte schnell und einfach weiterleiten zu können (Item 3) – das zustimmungsfähigste Item, es liegt jedoch im Durchschnitt nur etwas über dem Skalenmittelpunkt.
Wie weiter? Transforming Communications und Kommunikative Figurationen
Im Zuge der Verbreitung von Internet und sozialen Medien werden im professionellen Journalismus Formen der Publikumsbeteiligung immer vielfältiger – und wir können davon ausgehen, dass diese erweiterten Kommunikationsformen die Beziehung zwischen Journalismus und (seinem) Publikum weiter verändern, zu hierauf abgestimmten Arbeitsprozessen führen werden – und auch Einfluss nehmen auf journalistische Aussagenentstehung. Dies ist der Grund dafür, warum ich dieses Thema im Rahmen des Forschungsverbundes „Kommunikative Figurationen“ der Universitäten Bremen und Hamburg sowie des Hans-Bredow-Instituts für Medienforschung weiter vorantreiben möchte.
In diesem Forschungsverbund starten wir mit der Ausgangsbeobachtung, dass sich die Veränderungen in unserer Medienumgebung mit Hilfe von mindestens fünf Trends beschreiben lassen (vgl. Tab. 3): Die zunehmende Differenzierung (differentiation), Vernetzung (connectivity) und Allgegenwärtigkeit (omnipresence) von/durch Medien, das hohe Innovationstempo (pace of innovation) sowie eine Datafizierung (datafication), die unter anderem durch die digitalen Spuren bedingt ist, die wir bei all unseren Nutzungsaktivitäten im Internet hinterlassen und die für den Journalismus zum Beispiel neue Formen der Publikumsbeobachtung und -vermessung mit sich bringen.
Vor diesem Hintergrund nehmen wir im Rahmen unseres Forschungsverbunds nun in verschiedenen Forschungsprojekten ganz unterschiedliche Phänomene und Forschungsfragen in den Blick, die wir aber alle mit Hilfe des Konzepts der kommunikativen Figurationen (Hepp/Hasebrink 2014) untersuchen. Im Rahmen meines Projekts bedeutet dies, die Journalismus/Publikum-Beziehung als kommunikative Figuration zu modellieren und sie entlang von bestimmten kommunikativen Praktiken (communicative practices), der Akteurskonstellation (actor constellation) und ihrer thematischen Rahmungen beziehungsweise Sinnorientierungen (dominating frames of relevance) zu beschreiben.
Mit diesem Werkzeug können wir – wenn wir sehr grob einen Zeitpunkt t1 als „pre-internet age“ festlegen und diesen mit t2, dem „internet/social media age“ vergleichen –, sehr gut sichtbar machen, wie sich die Journalismus/Publikum-Beziehung von massen- auf sozialmediale Bedingungen umstellt oder zumindest erweitert. Diese Umstellung beziehungsweise Erweiterung hat Konsequenzen für alle Elemente der kommunikativen Figuration der Journalismus/Publikum-Beziehung: Die kommunikativen Praktiken erweitern sich von monologisch und an den Bedingungen von Massenmedien orientiert in Richtung dialogisch und an den Bedingungen von sozialen Medien orientiert; dazu gehören ein erweitertes Medienensemble und vielfältigere Kommunikationsformen zwischen Journalismus und Publikum sowie eine Beschleunigung der Kommunikationsprozesse. Und auch die klassische Akteurskonstellation von Sender/Empfänger dynamisiert und differenziert sich aus, indem sowohl den Journalisten in ihrer professionellen Rolle als auch dem Publikum ein erweitertes Repertoire an Möglichkeiten zur Verfügung steht. So kann das Publikum zum aktiven User und damit ähnlich einem Journalisten selbst aktiv werden. In Redaktionen werden vermehrt sogenannte Social Mediaoder Community Redakteure eingesetzt, die sich unter anderem um die Rückmeldungen und sonstigen Beiträge aus dem Publikum kümmern. Außerdem kommt es durch verschiedene Formen, Intensitäten, Beobachtungen und Messungen von Publikumsaktivitäten auf unterschiedlichen Kanälen und Plattformen zu einer Differenzierung des Publikumsbildes von Journalisten, die ihr Publikum nunmehr weniger als eine Größe wahrnehmen, sondern es nach diversen Attributen und Beteiligungskanälen in multiple Publika unterscheiden (z. B. aktiv vs. passiv, Print-Leser vs.Online-Leser, Facebook-Kommentierer vs. Leserbrief-Schreiber). Für die thematische Rahmung, die Sinnorientierung der Journalismus/Publikum-Beziehung kann dies schließlich bedeuten, dass die klassische Orientierung von Angebot und Nachfrage erweitert wird in Richtung Dialog, Partizipation und Wechselseitigkeit/Reziprozität. Mögliche Folgen können sich auf Publikumsseite in erhöhten Anforderungen an Transparenz (journalistischer Arbeitsprozesse) zeigen und in einer Zunahme und Veralltäglichung von Kontingenzerfahrungen, die sich zum Beispiel durch widerstreitende oder auch nur zunehmend vielfältige Wirklichkeitsbeschreibungen durch Journalismus und Publikumsmitglieder ergeben.
Fazit
Journalismus steht unter einem hohen Transformationsdruck – die Re-Definition seiner Publikumsbeziehung ist hierbei ein zentraler Faktor. Diese Transformation verläuft aber weder linear noch gleichförmig für alle Bereiche des Journalismus: Für Traditionsmarken wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung verläuft sie anders als für Startups wie die Krautreporter oder piqd ebenso wie für individuelle Journalisten und Publikumsmitglieder. Gleichwohl: Die Beziehung zwischen journalistischen Leistungsrollen und Publikumsrollen wird dynamisiert und verliert an Trennschärfe. Journalismus bedeutet im Kern aber immer noch die Produktion von Kommunikationsofferten – Nutzer haben die Macht, diese anzunehmen oder auch nicht.
Eine zentrale Frage kommt hierbei in den Blick: Welches Verhältnis zwischen Nähe und Distanz in der Beziehung zwischen Journalismus und Publikum können wir als funktional für Journalismus betrachten? Führen ein intensiverer Kontakt, mehr Wissen über das Publikum auch zu einem besseren Journalismus?
Die durch Internet und soziale Medien gewandelten Kommunikationsbedingungen haben das Gatekeeper-Monopol des Journalismus gebrochen – sie erlauben potenziell jedem, eigene Wirklichkeitskonstruktionen zu publizieren und andere zu kommentieren, und führen uns so den Konstruktionscharakter von Medienwirklichkeit(en) geradezu bildlich vor Augen. So nehmen auch Kontingenzerfahrungen zu; sie werden gleichsam veralltäglicht, denn gerade digitale Medienumgebungen sensibilisieren für die Kontingenz medialer Wirklichkeitskonstruktionen, machen sie sichtbar(er): Es könnte alles auch anders und anderes selektiert werden, anders berichtet und gesagt werden. Und genau dies wird u. a. in sozialen Medien und Kommentarforen ausgehandelt. Beobachten lässt sich dies beispielsweise bei Großereignissen (wie dem Absturz des Germanwings-Flugs 9525), wo die journalistische Berichterstattung in sozialen Medien von einer instantanen Medienkritik begleitet wird. Hier passiert dann alles gleichzeitig: Ein Ereignis, die Berichterstattung, die Kritik der Berichterstattung, die Kritik an der Kritik der Berichterstattung. Die Frage nach dem Wie medialer Konstruktionen wird also zu einer gesellschaftliche Diskurse permanent begleitenden Frage.
Weiterführende Literatur
- Boczkowski, Pablo J./Mitchelstein, Eugenia (Hg. ) (2013): The news gap. When the information preferences of the media and the public diverge. Cambridge, Mass.
- Frank, Arno (Hg.) (2013): Meute mit Meinung. Über die Schwarm-Dummheit. Zürich.
- Glotz, Peter/Langenbucher, Wolfgang R. (Hg.) (1993, zuerst 1969): Der missachtete Leser. Zur Kritik der deutschen Presse. München.
- Heise, Nele/Reimer, Julius/Loosen, Wiebke/Schmid, Jan-Hinrik/Heller, Christina/Quader, Anne (Hg.) (2014): Publikumsinklusion bei der Süddeutschen Zeitung. Fallstudienbericht aus dem DFG-Projekt „Die (Wieder-)Entdeckung des Publikums“. Hamburg (= Arbeitspapiere des Hans-Bredow-Instituts 31).
- Hepp, Andreas/Hasebrink, Uwe (2014): Human interaction and communicative figurations: The transformation of mediatized cultures and societies. In: Lundby, Knut (Hg.): Mediatization of Communication. Berlin u. a., S. 249–272.
- Loosen, Wiebke (2013): Publikumsbeteiligung im Journalismus. In: Meier, Klaus/Neuberger, Christoph (Hg.): Journalismusforschung. Stand und Perspektiven. Baden-Baden, S. 147–163.
- Loosen, Wiebke/Schmidt, Jan-Hinrik (2012): (Re-)Discovering the Audience. The Relationship between Journalism and Audience in Networked Digital Media. In: Information, Communication & Society, Special Issue „Three Tensions Shaping Creative Industries in a Digitized and Participatory Media Era“ (Ed. Oscar Westlund) Vol. 15, Nr. 6, S. 867–887.
- Loosen, Wiebke/Schmidt, Jan-Hinrik/Heise, Nele/Reimer, Julius (Hg.) (2013a): Publikumsinklusion bei einem ARD-Polittalk. Zusammenfassender Fallstudienbericht aus dem DFG-Projekt „Die (Wieder-)Entdeckung des Publikums“. Hamburg (= Arbeitspapiere des Hans-Bredow-Instituts Nr. 28).
- Loosen, Wiebke/Schmidt, Jan-Hinrik/Heise, Nele/Reimer, Julius/Scheler, Mareike (Hg.) (2013b): Publikumsinklusion bei der Tagesschau. Fallstudienbericht aus dem DFG-Projekt „Die (Wieder-)Entdeckung des Publikums“. Hamburg (= Arbeitspapiere des Hans-Bredow-Instituts 26).
- Loosen, Wiebke/Dohle, Marco (Hg.) (2014): Journalismus und (sein) Publikum. Schnittstellen zwischen Journalismusforschung und Rezeptions- und Wirkungsforschung. Wiesbaden.
- Meyen, Michael/Riesmeyer, Claudia (Hg.) (2009): Diktatur des Publikums. Journalisten in Deutschland. Konstanz.
- Reimer, Julius/Heise, Nele/Loosen, Wiebke/Schmidt, Jan-Hinrik/Klein, Jonas/Attrodt, Ariane/Quader, Anne (Hg.) (2015): Publikumsinklusion beim Freitag. Zusammenfassender Fallstudienbericht aus dem DFG-Projekt „Die (Wieder-)Entdeckung des Publikums“. Hamburg (= Arbeitspapiere des Hans-Bredow-Instituts 36).
- Scholl, Armin/Weischenberg, Siegfried (Hg.) (1998): Journalismus in der Gesellschaft. Theorie, Methodologie und Empirie. Wiesbaden.
- Wolf, Fritz (Hg.) (2015): „Wir sind das Publikum!“ Autoritätsverlust der Medien und Zwang zum Dialog. Frankfurt a. M. (= Otto Brenner Stiftung Arbeitsheft 84).