Politiken, Praktiken, Ökonomien und Infrastrukturen der Fürsorge in der ehrenamtliche und professionellen Flüchtlingsarbeit

Im Sinne einer multi-sited Ethnography untersuche ich „Politiken, Praktiken, Ökonomien und Infrastrukturen der Fürsorge in der ehrenamtlichen und professionellen Flüchtlingsarbeit“ seit 2014 anhand von zwei unterschiedlichen Konstellationen:

Zwischen Herbst 2014 und Sommer 2015 habe ich auf Sylt eine ethnografische Feldforschung zur ehrenamtlichen und professionellen Flüchtlingsarbeit in Form von sequentiellen, mehrtägigen Aufenthalten auf Sylt durchgeführt. Dieses Feld weckte aus unterschiedlichen Gründen mein Interesse: Sylt schien mir als lokal begrenzbarer Raum ein einfach definierbares Forschungsfeld, und auch Zeitungsartikel von der „besonders gelungenen Integration“ auf der „Insel der Superreichen“ (Süddeutsche Zeitung, 1. Januar 2015) rief nach genauerer ethnografischer Betrachtung. Darüber hinaus trieb mich die Frage um, inwieweit die Spezifik einer Inselkultur andere Formen der sozialen Interaktion zwischen Geflüchteten und denjenigen, die sich selbst als "Einheimische" bezeichneten, hervorrufen würde. Neben den zahlreichen Kontaktzonen zwischen Geflüchteten und ansässiger Bevölkerung war ein Kirchenasyl ein zentraler Forschungsort. In diesen Kontaktzonen wurde Improvisation, als das Feld auf allen Ebenen konstituierender Handlungsmodus deutlich und geriet damit in den Fokus meines Forschungsinteresses. Während meiner monatlichen Aufenthalte auf Sylt habe ich 2015 umfangreiches Material generiert (ausführliche narrative Interviews, Feldtagebücher, Beobachtungsprotokolle, internes Material, Fotos, Filme etc.). Derzeit befinde ich mich in der Auswertungsphase dieses Materials. Dabei zeigt sich, dass Improvisation keineswegs nur ein spontaner Umgang mit einer unbekannten und häufig defizitären Situation, eine Art Notlösung oder Übergangszustand (Dörger und Nickel 2008) darstellt, sondern auch als eine Praxis, die im Sinne von „creative governance” (Baldacchino 2010) zu begreifen ist. Der zukünftige Fokus der Auswertung liegt darauf, die unterschiedlichen Formen improvisatorischer Praxen zu beschreiben und in ihrem Verhältnis zu Macht und sozialer Positionierung zu verstehen.

In der zweiten Konstellation meines Forschungsprojektes steht die Jugendhilfe für unbegleitete minderjährige Geflüchtete im Zentrum. Auf der Basis qualitativer Interviews mit Pflegeeltern von unbegleiteten Minderjährigen/jungen Volljährigen untersuche ich in einer Langzeitstudie, wie staatliche, familiäre und ehrenamtliche Politiken, Praktiken, Ökonomien und Infrastrukturen der Fürsorge ineinandergreifen. Dabei begreife ich die Pflegefamilien als transkulturelle Wahlverwandschaften, deren Alltag sich zwischen unterschiedlichen Care-Systemen mit differierenden Eigenlogiken einerseits und dem europäischen Grenzregime andererseits bewegen. Durch die Arbeit als Ethnologin im bundesweiten Modellprojekt „Für junge Geflüchtete: Gastfamilien, Patenschaften und Vormundschaften“ zwischen Mai 2016 und Dez. 2017 (BMFSFJ gefördert, vgl. 15. Kinder- und Jugendbericht, https://www.bmfsfj.de/blob/115438/d7ed644e1b7fac4f9266191459903c62/15-kinder-und-jugendbericht-bundestagsdrucksache-data.pdf) verfüge ich über umfangreiche Systemkenntnisse im Bereich unbegleitete Minderjährige in der Jugendhilfe, die mir helfen, das Feld in seinen Tiefenstrukturen zu verstehen.


Publikationen
„They come and build their careers upon our shit“ oder warum ich 2014/15 nicht über Geflüchtete geforscht habe und sie dennoch maßgeblich zu meiner Forschung beitrugen – Reflexionen über strukturelle Hürden, Grenzen der Wissensproduktion und ihre Konsequenzen für Forschungsdesign und Forschungsethik, in Kaufmann, Nimführ, Otto, Schütz (Hg.), Wie zu Flucht und mit Geflüchteten arbeiten? Repräsentations-, Reflexionslücken und Ethikfragen in Forschung und Praxis", Springer VS, im Erscheinen.

Für junge Geflüchtete: Gastfamilien, Vormundschaften und Patenschaften - Abschlussbericht, Kompetenzzentrum Pflegekinder e.V und Diakonie Deutschland. Hierin: „Die projektbezogene Weiterbildung“, „Von der unterkulturellen Kompetenz zum transkulturellen Verständnis“ und „Care-Leaving und Gastfamilien“, 2018. (https://www.familien-fuer-junge-fluechtlinge.de/wp-content/uploads/Abschlussbericht_2018_Monitor.pdf )

Arbeitshilfe „Unbegleitete Minderjährige in Pflegefamilien“ zum Qualitätshandbuch „Westfälische Pflegefamilien“ im LWL: Konzeption und Text In Kooperation mit der Projektgruppe im LWL, 2018 (https://landesjugendamtshop.lwl.org/lja-shop/arbeitshilfen-und-sonstige-materialien/285/beratung-und-unterstuetzung-unbegleiteter-minderjaehriger-gefluechteter-in-westfaelischen-pflegefamilien?c=14 )

Kulturwissenschaftlich-ethnologische Perspektiven auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Gastfamilien in Sozialmagazin 43. Jg, Heft 3/4 2018, S. 72-79.

Silke Betscher und Alexandra Szylowicki, Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge in Gastfamilien, in Brinks/S./ Dittmann, E./ Müller, H. (Hrsg). Handbuch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Walhalla Fachverlag, Regensburg, 2017

Silke Betscher und Alexandra Szylowicki, Jugendliche Flüchtlinge in Gastfamilien - Eine erste Orientierung in einem großen gesellschaftlichen Feld, April 2016 (https://www.kompetenzzentrum-pflegekinder.de/workspace/uploads/jugendliche-fluechtlinge-in-gastfamilien_1.pdf)

Kontakt
Dr. Silke Betscher
Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft (IFEK)
Universität Bremen
Enrique-Schmidt-Straße 7
28359 Bremen
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Laufzeit
2014-2020

Finanzierung
gefördert im Rahmen der PostDoc-Initiative Plus, Zentrale Forschungsförderung Universität Bremen