Geschlechterkonzept

Im Folgenden soll das Geschlechterkonzept vorgestellt werden, das dieser Toolbox zu Grunde liegt. Dieses basiert auf der Grundannahme, dass Geschlecht von Multidimensionalität und Variabilität gekennzeichnet ist.

Zudem ist Geschlecht im Kontext der Intersektionalitätstheorie und des Embodiment- konzeptes zu betrachten.

Intersektionalität

Intersektionale Forschungsansätze berücksichtigen, dass soziale Kategorien, wie Geschlecht, Alter und Sexualität, nicht getrennt voneinander wirken, sondern eng miteinander verwoben sind.

Embodiment

Unter Embodiment wird das Zusammen- wirken sozialer und biologischer Prozesse verstanden, die in Wechselwirkung den Körper formen und die Gesundheit beeinflussen.

Multidimensionalität

Es gibt verschiedene soziale und biologische Dimensionen von Geschlecht (Bolte et al., 2021; Johnson and Repta, 2012; Krieger, 2003; Tannenbaum et al., 2016). Die biologischen Dimensionen beziehen sich auf die körperlichen Eigenschaften, die allgemein mit der sexuellen Reproduktion in Zusammenhang gebracht werden (Krieger, 2003). Hierzu zählen Chromosomen, Hormone und die Anatomie einer Person in Bezug auf äußere und innere Geschlechtsorgane (Bolte et al., 2021; Johnson and Repta, 2012).

Die sozialen Dimensionen von Geschlecht beziehen sich auf Identitäten, Normen und Beziehungen (Bolte et al., 2021; Johnson and Repta, 2012) und beinhalten eine individuelle, strukturelle und symbolischen Ebene. Die individuelle Ebene beinhaltet sowohl die Selbst- als auch Fremdzuweisung einer Person zu spezifischen Geschlechteridentitäten, während die strukturelle Ebene darstellt, wie soziale Beziehungen, Positionen und Privilegienzuteilungen in Bezug auf das Geschlecht in einer sozialen Gruppe oder Gesellschaft organisiert werden, z.B. durch Geschlechterrollen und -normen. Mit der symbolischen Ebene werden die kulturellen Bedeutungszu- weisungen zu den Geschlechtern bezeichnet (Harding, 1999), dies beinhaltet z.B. rosa als ‚weibliche‘ und blau als ‚männliche‘ Farbe zu bewerten.

Variabilität

Die sozialen und biologischen Dimensionen von Geschlecht sind von einer großen Variabilität gekennzeichnet. Aufgrund dieser großen Variationsbreite können sie nicht adäquat über eine binäre Variable abgebildet werden (Bolte et al., 2021; Hammarström et al., 2014; Heise et al., 2019; Johnson and Repta, 2012).

Die biologischen und sozialen Dimensionen von Geschlecht sind eng miteinander verstrickt und interagieren in Bezug auf ihre gesundheitliche Wirkung (Hyde et al., 2019; Krieger, 2003; Springer et al., 2012b) (Embodiment).

 

 


Abbildung: Geschlechterkonzept

DIVERGesTOOL Geschlechterkonzept
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Erläuterungen zur Abbildung

Die gewählte Darstellung einer Spirale repräsentiert die enge Verflechtung und Interaktion der verschiedenen biologischen und sozialen Dimensionen von Geschlecht.

DIVERGesTOOL Geschlechterkonzept: Innenkreis
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Das Geburtsgeschlecht ist das Geschlecht, das einer Person bei der Geburt zugeordnet und in der Geburtsurkunde vermerkt wird. Diese Einordnung basiert auf einer kulturell geprägten Deutung der äußeren Geschlechtsorgane bei der Geburt (Bolte et al., 2021). In Deutschland war es bis 2018 ausschließlich erlaubt die Kategorien „männlich“ oder „weiblich“ in die Geburtsurkunde einzutragen. Erst seit einer Änderung des Personenstandgesetzes 2018 kann auch „divers“ als Geschlecht angegeben oder der Eintrag frei gelassen werden. Das Geburtsgeschlecht muss nicht mit der aktuellen Geschlechtsidentität und auch nicht mit dem aktuellen Phänotyp übereinstimmen.

Der aktuelle Phänotyp einer Person bezieht sich auf die derzeitigen Ausprägungen der körperlichen Eigenschaften, die mit der sexuellen Reproduktion in Verbindung stehen (Krieger, 2003). Hierzu zählen die Chromosomen, Hormone und die Anatomie einer Person in Bezug auf äußere und innere Geschlechtsorgane (Bolte et al., 2021; Johnson and Repta, 2012).

Die Geschlechtsidentität wird als ein Produkt aus Selbst- und Fremdzuschrei- bung des Geschlechts einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt angesehen. Geschlechtsidentitäten sind kontextabhängig und interagieren mit anderen sozialen Identitäten (Bolte et al., 2021; Johnson and Repta, 2012).

Geschlechterexpressionen beziehen sich darauf, wie sich eine Person bezogen auf ihr Geschlecht zu einem bestimmten Zeitpunkt präsentiert. Dies betrifft beispielsweise bestimmte Verhaltensweisen, die Kleidung oder die Frisur (Bolte et al., 2021). Dies wird stark geprägt von den gesellschaftlichen Normen und Rollenvorstellungen, die mit den verschiedenen Geschlechtergruppen assoziiert sind (Bolte et al., 2021; Johnson and Repta, 2012).

Soziale und kulturelle Geschlechterbeziehungen

Die strukturellen Ebene von Geschlecht beschreibt, wie soziale Beziehungen in Bezug auf das Geschlecht innerhalb einzelner Gruppen oder der gesamten Gesellschaft organisiert werden. Biologische und soziale Dimensionen von Geschlecht auf individueller Ebene stehen somit in ständiger Wechselwirkung mit sozialen und kulturellen Geschlechterbeziehungen (Harding and Harding, 1999). Geschlechterbeziehungen werden hier durch einen Ring dargestellt, der den individuellen Kern umfasst. Dies soll verdeutlichen, dass sich alle Menschen ständig in einer von Geschlechterbeziehungen definierten Welt bewegen.

Geschlechterbeziehungen beschreiben, welche Rollen, Verhaltensweisen und Einstellungen für die verschiedenen Geschlechtergruppen in einer Gesellschaft als angemessen angesehen werden. Gleichzeitig entscheiden sie darüber, wie Macht, Privilegien und Benachteiligung zwischen den Geschlechtergruppen verteilt sind (Heise et al., 2019). Diese Strukturen sind nicht universell, sondern können sich vielmehr zwischen den verschiedenen Kulturen, Gesellschaften und Gruppen innerhalb einer Gesellschaft unterscheiden und unterliegen einem historischen Wandel (Beischel et al., 2021; Döring, 2013).

DIVERGesTOOL Geschlechterkonzept: Geschlechterbeziehungen
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DIVERGesTOOL Geschlechterkonzept: Umwelt
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Faktoren der sozialen, natürlichen und gebauten Umwelt

Die individuelle und strukturelle Ebene von Geschlecht befinden sich in der grafischen Darstellung innerhalb eines weiteren Rings, der Faktoren der sozialen, natürlichen und gebauten Umwelt repräsentiert. Der Doppelpfeil zeigt die gegenseitige Beeinflussung an.

Die soziale Umwelt umfasst strukturelle soziale Determinanten, wie beispiels- weise den sozioökonomischen Status, Bildung oder Religion und die hiermit verbundenen Machtstrukturen. Zu den Faktoren der natürlichen und gebauten Umwelt sind exemplarisch die Exposition gegenüber Umweltbelastungen und -ressourcen zu zählen. Es ist zu betonen, dass sich die soziale nicht immer eindeutig von der natürlichen und gebauten Umwelt trennen lässt. Vielmehr ist von einer Überlappung und gegenseitiger Beeinflussung auszugehen (Krieger, 2001), wie dies aktuell in der Exposomforschung untersucht wird (Vineis und Barouki, 2022; Bucher et al., 2023; Gudi-Mindermann et al., 2023).

 

Fluidität von Geschlecht

DIVERGesTOOL: Geschlechterkonzept
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Unterschiedliche Bedeutung der einzelnen Dimensionen

Die unterschiedlichen Dimensionen von Geschlecht sind nicht in jeder Situation bzw. für jede gesundheitliche Zielgröße und für jede Person von gleicher Relevanz. Vielmehr ist anzunehmen, dass der Einfluss der einzelnen Aspekte und die untereinander bestehender Wechselwirkungen stark variieren können (Krieger, 2003).

Das Geschlechterkonzept beruht auf der Annahme, dass Geschlecht fluide ist und sich über die Zeit verändern kann. Dies betrifft die sozialen und biologischen Dimensionen von Geschlecht.

Durch Wohnortwechsel oder politische und gesellschaftliche Veränderungen entspricht auch die Welt, in die eine Person geboren wurde, unter Umständen nicht mehr der Welt, in der diese Person zum heutigen Zeitpunkt lebt. Expositionen aus vergangenen Lebensphasen können erst später im weiteren Lebensverlauf wirksam werden und somit Einfluss auf die weitere Entwicklung einer Person und die sie umgebenden Strukturen nehmen (Heise et al., 2019; Kuh, 2003; Pederson et al., 2015).


Zitierte Literatur

Beischel, W.J., Schudson, Z.C., van Anders, S.M., 2021. Visualizing gender/sex diversity via sexual configurations theory. Psychology of Sexual Orientation and Gender Diversity 8, 1–13. https://doi.org/10.1037/sgd0000449

Bolte, G., Jacke, K., Groth, K., Kraus, U., Dandolo, L., Fiedel, L., Debiak, M., Kolossa-Gehring, M., Schneider, A., Palm, K., 2021. Integrating Sex/Gender into Environmental Health Research: Development of a Conceptual Framework. International Journal of Environmental Research and Public Health 18, 12118. https://doi.org/10.3390/ijerph182212118

Bucher, M.L., Anderson, F.L., Lai, Y., Dicent, J., Miller, G.W., Zota, A.R., 2023. Exposomics as a tool to investigate differences in health and disease by sex and gender. Exposome 3, osad003. https://doi.org/10.1093/exposome/osad003

Döring, N., 2013. Zur Operationalisierung von Geschlecht im Fragebogen: Probleme und Lösungsansätze aus Sicht von Mess-, Umfrage-, Gender- und Queer-Theorie. GENDER - Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 2, 94–113.

Hammarström, A., Johansson, K., Annandale, E., Ahlgren, C., Aléx, L., Christianson, M., Elwér, S., Eriksson, C., Fjellman-Wiklund, A., Gilenstam, K., Gustafsson, P.E., Harryson, L., Lehti, A., Stenberg, G., Verdonk, P., 2014. Central gender theoretical concepts in health research: the state of the art. Journal of Epidemiology and Community Health 68, 185–190. https://doi.org/10.1136/jech-2013-202572

Harding, S.G., 1999. Feministische Wissenschaftstheorie: zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht, 3. Aufl. ed. Argument-Verlag, Hamburg.

Heise, L., Greene, Margaret E, Opper, N., Stavropoulou, M., Harper, C., Nascimento, M., Zewdie, D., Darmstadt, G.L., Greene, Margaret Eleanor, Hawkes, S., Heise, L., Henry, S., Heymann, J., Klugman, J., Levine, R., Raj, A., Rao Gupta, G., 2019. Gender inequality and restrictive gender norms: framing the challenges to health. The Lancet 393, 2440–2454. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(19)30652-X

Hyde, J.S., Bigler, R.S., Joel, D., Tate, C.C., van Anders, S.M., 2019. The future of sex and gender in psychology: Five challenges to the gender binary. American Psychologist 74, 171–193. https://doi.org/10.1037/amp0000307

Johnson, J.L., Repta, R., 2012. Sex and Gender: Beyond the Binaries, in: Designing and Conducting Gender, Sex, & Health Research. SAGE Publications, Inc., 2455 Teller Road,  Thousand Oaks  California  91320  United States, pp. 17–38. https://doi.org/10.4135/9781452230610.n2

Krieger, N., 2003. Genders, sexes, and health: what are the connections—and why does it matter? International Journal of Epidemiology 32, 652–657. https://doi.org/10.1093/ije/dyg156

Krieger, N., 2001. A glossary for social epidemiology. Journal of Epidemiology & Community Health 55, 693–700. https://doi.org/10.1136/jech.55.10.693

Kuh, D., 2003. Life course epidemiology. Journal of Epidemiology & Community Health 57, 778–783. https://doi.org/10.1136/jech.57.10.778

Pederson, A., Greaves, L., Poole, N., 2015. Gender-transformative health promotion for women: a framework for action. Health Promotion International 30, 140–150. https://doi.org/10.1093/heapro/dau083

Springer, K.W., Mager Stellman, J., Jordan-Young, R.M., 2012. Beyond a catalogue of differences: A theoretical frame and good practice guidelines for researching sex/gender in human health. Social Science & Medicine 74, 1817–1824. https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2011.05.033

Tannenbaum, C., Greaves, L., Graham, I.D., 2016. Why sex and gender matter in implementation research. BMC Medical Research Methodology 16, 145, s12874-016-0247–7. https://doi.org/10.1186/s12874-016-0247-7

Vineis, P., Barouki, R., 2022. The exposome as the science of social-to-biological transitions. Environment International 165, 107312. https://doi.org/10.1016/j.envint.2022.107312