(AKAD37) Vom Reden in Metaphern

Menschen haben Rätsel gern. Eltern halten Kinder auf langen Autofahrten mit Rätselraten bei Laune, zu den ältesten Kulturzeugnissen gehören Rätsel, z.B. die Sphinx oder die Merseburger Zaubersprüche, und im deutschen Fernsehen besteht der größte Teil an Unterhaltung in Quiz und Krimis.

Sigmund Freud nennt das Rätsel einen umgekehrten Witz: Der Witz überrascht mit einer unerwarteten Pointe, das Rätsel verschweigt sie. „Jedes Kunstwerk ist ein Rätsel.“ (Theodor W. Adorno) Und man kann leider nicht den Künstler befragen, wenn man es lösen will, denn: „Der Text ist klüger als der Autor.“ (Heiner Müller) Der Dichter weiß nicht (genau oder überhaupt nicht), was er schreibt, er kann bloß dem inneren Zwang nicht widerstehen, sich genauso auszudrücken, wie er es tut. Die Frage: Was wollen Sie damit sagen? geht ins Leere. Die Dichterin hat schon aufgeschrieben, was sie sagen wollte.

Die Wissenschaft redet in Begriffen, die Dichtung in Metaphern. Wenn man wissen will, was Vernunft ist, kann man Kant oder Habermas lesen, die haben das „begriffen“. Marx z.B. begreift „Kapital“ als „Verfügungsgewalt über fremde Arbeitskraft.“ Ein herrlicher klarer Begriff! Verglichen mit dem Wirrwarr, das vor (leider auch wieder nach) Marx darüber herrschte. Wo z.B.der Flitzebogen des steinzeitlichen Jägers genauso als „Kapital“ galt wie der Besitz einer Londoner Fabrik! Oder wo Pierre Bourdieu heute von „kulturellem Kapital“ spricht. So was gibt’s nicht.

Aber woher kommt das Wort „Kapital“? Von lat. „caput“ = Kopf, so wie man eine Hauptstadt „Kapitale“, Zentrum eines Landes, nennt oder von einem „kapitalen Fehler“ spricht. Aber ein wirklicher, menschlicher „Kopf“ ist das Kapital ja nicht. Nein, aber es beherrscht die Gesellschaft wie das Gehirn den Körper, oder es ist der „Anfang“ von allem, man muss beim „Kapital“, also Kopf anfangen, wenn man die moderne Gesellschaft verstehen will. … Und schon sind wir in der Metaphernwelt.

Bis auf die allerabstraktesten Begriffe, die Zahlen, die davon frei erscheinen, wurzelt die abstrakte Begriffswelt doch in der anschaulichen Metaphernwelt. Wie ich gerade merke, sind selbst die einfachen, abstrakten Zahlen davon nicht frei: warum ist eine 1 wohl ein einziger senkrechter Strich, und nicht z.B. 3 Striche… und während ich die 3 tippe, merke ich, dass die 3 ein Bild, also eine Metapher ist: sie hat drei Ausläufer oder Enden nach links – das ist bestimmt kein Zufall! Und die 4 vier Ecken! Man soll’s nicht glauben! Und die 5? Vier Enden und eine Kurve, im Mittelalter schrieb man die 5 mit 5 Ecken! Und die 6? Die tanzt aus der Reihe. Vielleicht weil sie über die Finger einer Hand hinausgeht? Ein großes Wagnis im Jahr 9723 v.Chr.! Ein Schritt in die dunkle Abstraktion des Geistes.

Begriffe sind genau, aber abstrakt, Metaphern ungenau, aber anschaulich. Wo genau ist „am Fuße des Berges“? 25 m oder 250 m über NN? Und wieso laufen Berge nicht weg, wenn sie doch Füße haben? Immerhin haben die „Propheten“ überlegt, ob die Berge nicht zu ihnen kommen könnten.

Dies alles hat Kant zu der Einsicht gebracht: Begriffe ohne Anschauung sind leer, Anschauung ohne Begriffe ist blind. Man braucht eben beides, Abstraktion (Begriffe) und Konkretion (Bilder) zur Erkenntnis. (Und die Musik hat Kant noch vergessen, die ist nicht „anschaulich“, aber sehr sinnlich und hat starke Beziehung zur Mathematik. Diese Einheit von Sinnlichkeit, die über’s Ohr, nicht über’s Auge geht, und Abstraktion lässt sich nun wieder gar nicht „begreifen“, deshalb ist das Reden über Musik so schwierig.)
Hier ein modernes poetisches Beispiel für „Anschauung ohne Begriffe“:

0,0001% der Lebenszeit

Die Schultern gekrümmt, hockt der Wirt des Lokals Brusquetta d’Agneau über seiner Zeitung und dem Milchkaffee. Seine Frau, die Wirtin, macht ihn aufmerksam auf die Auseinandersetzung zwischen drei Hunden im Hauseingang gegenüber. Jetzt sind die Hunde verschwunden. Der Wirt blickt (in der Trägheit des Morgens) noch immer zur Tür, durch die sie ins Haus verschwanden (bis zuletzt im Streit). Er hat seinen Kopf mit gleichgültig-neugierigem Augenausdruck insgesamt 31 Sekunden in der seitlichen Richtung gehalten. Er rückt sein Gesichtsfeld nunmehr zur Zeitung hin. Eines langen Vormittags Reise bis zur Ankunft der Mittagsgäste. Der Wirt hat weniger als 0,0001 Prozent seiner Lebenszeit für den Seitenblick auf die Hunde verbraucht.

Das ist der kürzeste Text aus Alexander Kluges Chronik der Gefühle (erschienen im Jahr 2000, ein Buch, das Abschied nimmt vom 20. Jahrhundert). Zweifellos ist der Text ein Rätsel. Wovon redet der Mann da überhaupt? Hier ein Tipp: Fangen Sie mal an zu rechnen, dann kriegen Sie raus, wer oder was der Wirt ist. Sie werden sich wundern! (Und wenn Zahlen die reinsten Begriffe sind, welche Rolle spielen sie dann in diesem hochmetaphorischen, monadisch-musikalischen Text?)

Die ersten 15 Geschichten der Chronik der Gefühle erzählen metaphorisch, d.h. in mehr oder weniger rätselhaften Bildern. Die 16. Geschichte ist dokumentarisch. Um diese 15 Geschichten und wie sie sich vom 20. Jahrhundert verabschieden wird es in dem Seminar gehen. Betrachten Sie das einmal als eine Einführung in das Reden in Metaphern, d.h. in die Literatur oder Dichtung.

Ich hätt’s natürlich gern, wenn Sie sich die Chronik der Gefühle (zwei Bände bei Suhrkamp) anschaffen. Das ist was für’s Leben! Insofern könnten Sie es auch kaufen.

Aber die Bücher sind dick und teuer (48 €).

Ich werde die Texte (gut 40 Seiten) deshalb auch jedem zur Verfügung stellen.
 


Dozent:             Prof. Dr. Rainer Stollmann

Termine:             9 x donnerstags,  16.10.2025 – 11.12.2025

Zeit:                    10:00 (s.t.) bis 11:30 Uhr

Veranstaltungsart: hybrid, in Präsenz (Akademie, Raum B 0660) oder wahlweise Online-Teilnahme

Hinweis:                      Teilnehmerbegrenzung: 40 Personen in Präsenz

Entgelt als einzelne Buchung:  100,- Euro (wenn Sie diese Veranstaltungen als einzige im gesamten Wintersemester 2025/26 belegen)

Kontakt

Wir sind für Sie da:

Nicole Lehmkuhl
Maike Truschinski
Jaroslaw Wasik

Büro:
Zentralbereich / Raum B0670
Bibliothekstraße 2A

Sprechzeiten:
Mo - Fr 10:00 - 12:00 Uhr

Telefon: 0421- 218 61 616
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