Intersektionalität
Eine Person wird nicht nur durch das Geschlecht, sondern durch viele verschiedene soziale Kategorien, wie den sozioökonomischen Status, das Alter oder die sexuelle Orientierung charakterisiert. Hierbei gilt es zu bedenken, dass niemand in einem Moment eine Frau ist, in einem anderen eine Migrationsgeschichte hat und zu einem dritten Zeitpunkt einer sexuellen Minderheit angehört. Vielmehr füllt eine Person alle diese Identitäten zur selben Zeit aus, was dazu führt, dass sich die einzelnen Privilegien oder Benachteiligungen, die mit der Zugehörigkeit zu diesen Kategorien verbunden sind, kreuzen und miteinander interagieren. Die Effekte, die aus diesen Kombinationen für die Gesundheit entstehen, sind daher nicht als Summe der Einflüsse der einzelnen sozialen Kategorien zu verstehen. Vielmehr entstehen durch die gegenseitige Interaktion neue, kombinierte Effekte (Bowleg, 2012; Krieger, 2020).
Beispiel 1:
Als Beispiel für das Potential eines intersektionalen Ansatzes für die Gesundheitsforschung führen Hankivsky et al. (2017) die Identifikation von Subgruppen an, die besonders gefährdet sind, sich mit HIV zu infizieren. Lange galten Männer, die Sex mit Männern haben, als Hauptrisikogruppe für eine Infektion. Später konnten allerdings auch noch weitere Populationen unter Risiko identifiziert werden. Hierunter fallen insbesondere auch Frauen, die in Armutsverhältnissen leben, Sexarbeiter*innen und Konsument*innen von Injektionsdrogen. Gründe lassen sich erst durch die Betrachtung des Zusammenspiels aus verschiedenen individuellen und strukturellen Kategorien erfassen. Diese umfassen beispielsweise das sexuelle Verhalten und das Mitbestimmungsrecht bei der Wahl von Verhütungsmitteln, Geschlechterrollen oder die finanziellen Möglichkeiten einer Person (Hankivsky et al., 2017).
Beispiel 2:
Ein weiteres Beispiel findet sich bei Krieger et al. (Krieger et al., 2017): Sie untersuchten den Zusammenhang zwischen dem Risiko ein Hormonrezeptor-negatives Mammakarzinom, einen spezifischen Brustkrebs, auszubilden und dem Aufwachsen in US-Bundesstaaten mit zum Zeitpunkt der Geburt geltender Jim-Crow-Gesetzgebung, also einer Geschichte legaler rassistischer Separierung. Sie beobachteten, dass Schwarze Frauen aus Bundesländern mit Jim-Crow Status häufiger erkrankten als Schwarze Frauen aus Bundesstaaten ohne diese Vergangenheit oder weiße Frauen, unabhängig von deren Geburtsort. Das Forschungsteam beschreibt, dass das Risiko für ein Hormonrezeptor-negatives Mammakarzinom durch Expositionen im gesamten Lebensverlauf beeinflusst werden. Eine mögliche Erklärung für das beobachtete erhöhte Erkrankungsrisiko von Schwarzen Frauen aus Bundesländern mit ehemaliger Jim-Crow-Gesetzgebung sieht es in dem Rassismus, den diese Frauen erfahren haben. Ohne eine Berücksichtigung des Lebensortes wäre die unterschiedliche Verteilung des Brustkrebses unter Schwarzen Frauen unentdeckt geblieben. Auch zeigt sich hier das Zusammenwirken sozialer und biologischer Prozesse (Embodiment).
„(...) intersectional approaches in public health research emphasize the need to consider social contexts and power relations rather than individual identities and experiences as determinants of health inequity (...). This allows for moving from the risk factor paradigm and the identification of static social categories to the analysis of power relations and social structures as key causes of health inequities (...)
Intersectionality (...) provides a theoretical justification for the interrelation and mutual constitution of multiple dimensions of power and are not comparable to one another (...). This perspective implies that analyses of, for example, sex/gender as independent of other dimensions of social location are incomplete and inadequate (...)"
(Merz et al. 2021, p.3)
Ein intersektionaler Ansatz in der Gesundheitsforschung besitzt das Potential, ein breiteres Verständnis für die Heterogenität der Erfahrungen innerhalb verschiedener Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen. Für das hier vorgestellte Geschlechterkonzept bedeutet dies, von einer Variabilität innerhalb der einzelnen Geschlechtergruppen auszugehen (Binnendifferenzierung von Geschlechtergruppen). Das heißt, dass die einzelnen Personen innerhalb einer Geschlechtergruppe weiteren Kategorien (beispielweise in Bezug auf ihren sozioökonomischen Status) angehören und sich auf diese Weise voneinander unterscheiden. Alle diese Kategorien beeinflussen sich untereinander, interagieren mit den verschiedenen Dimensionen von Geschlecht und werden ebenso durch diese beeinflusst (Bolte et al., 2021; Bowleg, 2012; Hammarström et al., 2014; Hankivsky, 2012; Merz et al., 2021; Springer et al., 2012a).
Die Beispiele zeigen, wie komplex die intersektionalen Auswirkungen von Geschlecht in Verbindung mit anderen sozialen Faktoren auf die Gesundheit sein können. Intersektionale Forschungsansätze berücksichtigen diese Komplexität der Realität und die damit verbundenen methodischen Herausforderungen (Bauer, 2014; Bolte and Lahn, 2015; Bowleg, 2012).
Zitierte Literatur
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Bolte, G., Jacke, K., Groth, K., Kraus, U., Dandolo, L., Fiedel, L., Debiak, M., Kolossa-Gehring, M., Schneider, A., Palm, K., 2021. Integrating Sex/Gender into Environmental Health Research: Development of a Conceptual Framework. International Journal of Environmental Research and Public Health 18, 12118. https://doi.org/10.3390/ijerph182212118
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Merz, S., Jaehn, P., Mena, E., Pöge, K., Strasser, S., Saß, A.-C., Rommel, A., Bolte, G., Holmberg, C., 2021. Intersectionality and eco-social theory: a review of potentials for public health knowledge and social justice. Critical Public Health 1–10. https://doi.org/10.1080/09581596.2021.1951668
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