Anlässlich der Veröffentlichung von "Zukunft jenseits des Marktes. Demokratie und gesellschaftliche Naturverhältnisse in sozialistischen Utopien führen wir dieses Gespräch mit der Autorin Samia Mohammed.
Samia ist seit 2022 Doktorandin im Graduiertenkolleg "Contradiction Studies" der Universität Bremen und Mitglied in der AG Politische Theorie und Ideengeschichte (Prof. Martin Nonhoff) am InIIS. Vorher war sie MA-Studentin in Politikwissenschaft/Politischer Theorie an der Goethe-Universität Frankfurt.
Das Gespräch führte Roy Karadag.
Liebe Samia, herzlichen Glückwunsch zur Veröffentlichung deines Buchs Zukunft jenseits
des Marktes. Was waren für dich eigentlich Auslöser, sich mit dieser großen Frage von Gesell-
schaftstheorie zu befassen?
Vielen lieben Dank! Und danke auch für die Möglichkeit, hier über ein paar der Ideen aus dem
Buch zu sprechen. Das erste Mal aufmerksam gemacht wurde ich auf die Debatte um demokra-
tisch-sozialistische Wirtschaftsplanung von einem Freund aus dem Studium und habe daraufhin
angefangen, mich ein bisschen reinzulesen. Ich habe dann schnell festgestellt, dass darin viele
der Fragen, die mich während meines Studiums der Politikwissenschaft beschäftigt haben und zu
denen ich immer wieder zurückgekommen bin, zusammenlaufen: Die augenscheinlichen Krisen
der Gegenwart und eine zeitdiagnostische Reflexion dieser, die wieder stärkere Rückbindung ei-
ner kritischen politischen Theorie an die politische Ökonomie, unser Verständnis von Freiheit, der
Umgang mit gesamtgesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen, das Nachdenken darüber,
wie es anders sein könnte und vieles mehr. All diese und zahlreiche weitere Fragen lassen sich
meines Erachtens in Debatten um Wirtschaftsplanung diskutieren. Zudem hat mich daran gereizt,
dass das Nachdenken über alternative Organisationsformen der Wirtschaft nicht einfach theore-
tische Spielerei ist, sondern gerade auch im Bereich der Planungsdebatte stets mit einem An-
spruch auf Analyse, Kritik und Veränderung des Bestehenden verbunden ist.
Nun gibt es ja eine große Tradition von Schriften zur Frage, wie das mit dem Kapitalismus aus-
gehen kann. Was, meinst du, wäre dein konkreter Beitrag zu diesen Zukunftsszenarien?
In dem Buch schlage ich ja nicht selbst ein konkretes Szenario einer möglichen Zukunft vor oder
proklamiere, dass wir diesem oder jenem Modell ökonomischer Planung folgen sollten, in der Po-
sition sehe ich mich auch gar nicht. Mein Beitrag besteht vielleicht eher darin, eine teilweise Ver-
bindung der neueren Planungsdebatte mit laufenden politiktheoretischen Diskussionen herzu-
stellen und darüber mögliche Leerstellen beider Felder zu adressieren – in Form einer solidari-
sche Kritik, die das Entwickeln vorstellbarer Alternativen zur kapitalistischen Marktwirtschaft im
Allgemeinen grundsätzlich befürwortet bzw. gar notwendig findet und demokratische Planung im
Besonderen für eine vielversprechende Idee hält, so auch gezielt Argumente dafür vorbringt und
diese bspw. in einem demokratie- oder freiheitstheoretisches Vokabular bespricht. Die dabei
ebenfalls notwendige Infragestellung einiger Vorstellungen in konkreten Planungsentwürfen kann
dann hoffentlich dazu beitragen, die neuere sozialistische Planwirtschaftsdebatte weiter voran-
zutreiben – und, gemeinsam mit allen anderen, die an diesen Fragen arbeiten, immer wieder da-
rauf hinzuweisen, dass der Kapitalismus das eigentlich undemokratische Wirtschaftssystem ist,
nicht der Sozialismus. Letztere muss es zumindest nicht sein.
Verändern sich sozialistische Utopien? Oder ist das im Prinzip immer die gleiche Vision, die
wir uns so vorstellen?
Sicherlich gibt es einige Motive, die es überhaupt über die Zeit und sich verändernde Umstände
erlauben, ein Archiv sozialistischer Utopien zu benennen, das intern dabei aber nicht spannungs-
frei ist. Dieses Archiv zeichnet sich dann vielleicht gar nicht dadurch aus, dass es alle Vorstellun-
gen zu notwendigen Elemente einer sozialistischen Gesellschaftsorganisation teilt, sondern,
dass die Visionen darin sich ähnliche Fragen stellen – beispielsweise die danach, was es konkret
heißen könnte, soziale Freiheit zu verwirklichen oder allen zu ermöglichen, nach ihren Fähigkeiten
und Bedürfnissen zu leben und zu arbeiten.
Was sich aber auf jeden Fall verändert hat und auch stetig weiter verändern wird, ist die Grund-
lage, auf der wir diese Überlegungen treffen: Die Produktivkraftentwicklung heute ist ja eine ganz
andere als beispielsweise vor 100 Jahren, als die erste sozialistische Planwirtschaftsdebatte ge-
führt wurde. Seitdem hat sich unter anderem in den Bereichen Automatisierung und Informati-
onstechnologie so viel verändert oder ist erst neu entstanden, dass heutige Zukunftsvisionen
nicht selten weitgehende Automatisierungen von Arbeits- und Produktionsprozessen konstitutiv
einbeziehen und sich in der Regel auch die Potentiale von leistungsstarken Computern für die Pla-
nung und Koordination ökonomischer Prozesse zunutze machen. Zudem prägen sicherlich auch
die Krisen, die in einer Zeit besonders präsent sind, die Art, wie wir uns Zukunft vorstellen: Ange-
sichts der sich in den letzten Jahren immer weiter überschlagenen und bereits Realität geworde-
nen Klimakatastrophe beziehen viele der zeitgenössischen sozialistischen Utopien, die mir be-
kannt sind, ökologische Aspekte stark mit ein – wenn auch, wie ich und andere im Fall der Pla-
nungsdebatte behaupten, in einigen Hinsichten nicht konsequent genug.
Kann man solch eine Zukunft ohne Markt planen? Sich also konkret vorstellen, dass Markt-
preise als Regulierungsmechanismus in naher Zukunft nicht mehr gelten?
Eine Zukunft jenseits des Marktes, die sich nicht durch eine technokratische oder autoritäre Form
der Planung entweder des Staates oder privater Unternehmen auszeichnet, sondern nennens-
wert demokratische Entscheidungsmechansimen implementiert und die Verfügung über die ge-
sellschaftlichen Produktionsmittel kollektiviert, kann in dieser Form natürlich nicht einfach ge-
plant, sondern muss, wenn dann, von breiten sozialistischen Bündnissen erkämpft werden – ein-
fach so wird es dazu nicht kommen und wenn man sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse
bspw. in Deutschland anschaut, dann wirkt das gerade sehr weit weg. Gleichzeitig wird in unse-
rem dauerkrisenhaften System gerade zunehmend und allgemeiner sichtbar, dass die Marktform
zur Bewältigung ökonomischer und auch politischer, ökologischer und sozialer Krisen höchst un-
geeignet ist. Der neoliberale Kapitalismus der Gegenwart zeichnet sich so ja gerade nicht dadurch
aus, dass der Staat sich einfach aus der Ökonomie raushält, sondern dadurch, dass die Bedin-
gungen zur Kapitalakkumulation und Profitmaximierung immer wieder hergestellt bzw. aufrecht-
erhalten werden – auch durch planerische Koordinationsmechanismen. Ein wichtiger Beitrag der
sozialistischen Planwirtschaftsdebatte liegt so meines Erachtens auch darin, darauf hinzuwei-
sen, dass die Dichotomie zwischen Markt und Plan und ihre vermeintliche Entsprechung mit einer
freien Regierungs- und Gesellschaftsform einerseits und einer autoritären andererseits selbst
eine ideologische Konstruktion ist.
Das Ziel einer Zurückdrängung von Marktpreisen als Koordinationsmechanismen ökonomischer
Aktivitäten muss aus dieser Perspektive also immer an ein Mehr an demokratischer Kontrolle und
ein Hinwirken auf eine Umwälzung der Produktionsverhältnisse gekoppelt sein – das Wegfallen
von Preisen und Markt allein macht schließlich noch keinen Sozialismus, sondern kann im Ge-
genteil auch den Weg in einen noch autoritäreren Kapitalismus bahnen. Dennoch denke ich
schon, dass auch das Drängen auf andere Koordinationsmechanismen, wenn dies eben nicht iso-
liert verstanden wird, nicht einfach ein optionales nice to have sein sollte, sondern durchaus in-
tegraler Bestandteil sozialistischer Zukunftsvisionen. Denn erst so kann die Idee einer kollektiv
gestalteten Ökonomie, in der nicht in wechselseitiger Unkenntnis, sondern tatsächlich kooperativ
produziert, gearbeitet und gelebt wird, wirklich zuende gedacht werden kann.
Was sind denn gerade die konkreten Kämpfe gegen Markt und Kapitalismus, wo sozialistische
Utopien erfolgreich eingesetzt werden, um Menschen zu mobilisieren? Bzw.: wo klappt das
gerade nicht so gut?
Insgesamt befinden wir uns in dieser Hinsicht ja seit längerem eher in der Defensive und linke
Kräfte sind vor allem damit beschäftigt, in Abwehrkämpfen die noch weitere Neoliberalisierung
und die starken autoritären Tendenzen zurückzudrängen. Gleichzeitig nimmt die Beschäftigung
mit Utopien, die auf ein Jenseits des Kapitalismus und dessen konkrete Ermöglichung hindeuten,
vor allem im Kontext der Klimakrise zu. Und das Hauptbeispiel, auf das auch aus der Planungs-
debatte heraus immer wieder verwiesen wird, sind die Bewegungen zur Vergesellschaftung öf-
fentlicher Infrastrukturen der letzten Jahre: sowohl im Wohn- als auch im Energiesektor werden
diese Forderungen wieder selbstbewusster formuliert und können Ansatzpunkte für eine kollek-
tive Verfügung über und demokratische Gestaltung der geteilten Lebensgrundlagen bieten.
Sozialismus und Natur, das sind doch in der Geschichte des Industrialismus harte Gegens-
ätze gewesen. Man denke an die ökologischen Verwüstungen in der DDR und im Ostblock,
wo eben keine grünen Bewegungen sich formierten? Was sind denn hier die Ideen, diese Ge-
gensätze aufzuheben und einen Sozialismus mit Natur und Klimaschutz denkbar zu machen?
Diese historische Feststellung stimmt natürlich und muss im Nachdenken über eine sozialisti-
sche Zukunft selbstverständlich einbezogen werden. Ich würde jedoch sagen, dass – anders als
im Kapitalismus, von dem Naturzerstörung gar nicht zu trennen ist – ökologische Zerstörung der
Idee des Sozialismus gerade nicht inhärent ist und erst eine vergesellschaftete, demokratisch ge-
plante Form der Ökonomie die Mittel dazu bereitstellt, ebendieser Zerstörung ein Ende zu setzen.
Dafür muss richtigerweise reflektiert werden, woran in dieser spezifischen Hinsicht vergangene
sozialistische Staaten gescheitert sind. Konkrete Ansatzpunkte und Impulse aus der Planungsde-
batte sind dabei eine bedarfsgerechte Produktion, der Bruch mit dem Akkumulations- und
Wachstumszwang des Kapitals, eine ex ante Koordination ökonomischer Prozesse und dadurch
eine genauere Planung benötigter Ressourcen, die Verschwendung vermeidet. Demokratische
ökonomische Planung wäre aus dieser Perspektive also nicht hinreichende, aber notwendige Be-
dingung eines ökologischen Sozialismus, der ein anderes Naturverhältnis ermöglichen und einen
demokratischen Umgang mit speziesübergreifenden Abhängigkeiten denkbar machen könnte.
Vielen Dank für deine Antworten und alles Gute!
Wir möchten schließlich darauf hinweisen, dass ein ausführlicheres Gespräch im Podcast FUTURE HISTORIES verfügbar ist:
https://futurehistories.today/episoden-blog/s02/e43-samia-mohammed-zur-zukunft-jenseits-des-marktes/