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Kinder-Euthanasie in der NS-Zeit: „Es war eine Tötung, keine Krankheit“

Gertraude Küchelmann war drei Jahre alt, als sie 1942 in der Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt eines gewaltsamen Todes starb. In den Augen der Nationalsozialisten galt sie mit ihrer körperlichen Behinderung als „lebensunwert“. Ihr Bruder, Hans-Walter Küchelmann, hat das kurze Leben seiner Schwester…

„Es war ein Zufall, dass ich vor rund drei Jahren die Akte meiner kleinen Schwester in die Hände bekam“, erklärt Hans-Walter Küchelmann, „doch die genauen Todesumstände wurden auch hier nicht offengelegt". Die Bremer Kulturwissenschaftlerin Gerda Engelbracht hat bei ihren Recherchen zu der Ausstellung in Gerichtsarchiven in Hannover die Akte entdeckt. 36 Bremer Kinder starben in der „Kinderfachabteilung“ der Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt.

Angeblich Lungenentzündung

„Am 10. November 1942 hat meine Familie Gertraude in die „Kinderfachabteilung“ nach Lüneburg gebracht. Meiner Mutter ging es zu der Zeit gesundheitlich nicht gut. Sie brauchte dringend eine Entlastung “, beschreibt Küchelmann die damaligen Umstände. „Beim Jugendamt hatte man uns erklärt, dass es Einrichtungen speziell für „behinderte“ Kinder gäbe. Dort würde Gertraude für eine gewisse Zeit betreut, damit meine Mutter sich etwas erholen könnte. Das haben wir geglaubt“.

Einen Tag später, am 11. November 1942, kam das Telegramm: Gertraude sei an Lungenentzündung verstorben. „Noch einen Tag zuvor war meine Schwester gesund. Was haben die nur mit ihr gemacht? Diese Ungewissheit war sehr quälend für uns“, so Küchelmann. Denn auf Nachfrage der fassungslosen Eltern gab es keine weiteren Erklärungen. Die Familie bat um die Freigabe des Leichnams, um Gertraude in Bremen zu beerdigen. Das wurde nur unter zwei Auflagen gewährt: Zum einen durfte die Familie den Sarg nicht öffnen. Zum anderen verpflichte sie sich, Gertraude einzuäschern.

„Es war eine Tötung, keine Krankheit“.

„Für uns waren das Indizien dafür, dass meine Schwester für Versuche missbraucht wurde“, erklärt Küchelmann. „Der behandelnde Arzt in Lüneburg hatte sich auf Gehirnforschung spezialisiert. Unser Verdacht war, dass er meiner Schwester das Gehirn entnommen hatte. Doch das haben wir erst alles nach dem Krieg herausgefunden. Vorher war es unmöglich, irgendwelche Informationen zu bekommen. Es war eine Tötung, keine Krankheit“.

Zum Hintergrund:

1941 ordnete der „Reichsgesundheitsführer“ Leonardo Conti an: Unheilbar kranke Kinder sollten ihren Eltern weggenommen und in "Kinderfachabteilungen" zusammengefasst werden – angeblich, um ihre Väter und Mütter davon abzuhalten, gesunde Sprösslinge zu vernachlässigen. Mehr als 30 „Kinderfachabteilungen“ soll es gegeben haben, in denen behinderte und angeblich oder tatsächlich unheilbare Kinder von Ärzten und Schwestern gegen jede medizinische Ethik entweder aktiv ermordet oder durch Unterlassung umgebracht wurden – meist verhungerten oder verdursteten die kleinen Patienten. Wahrscheinlich mehr als 10.000 Kinder wurden auf diese Weise in der NS-Zeit der Vernichtung preisgegeben.

Die Ausstellung:

Die Ausstellung „Entwertet, ausgegrenzt, getötet – Medizinverbrechen an Kindern im Nationalsozialismus“ wird in Kooperation mit der KulturAmbulanz Bremen präsentiert und ist noch bis zum 3. März 2014 während der Öffnungszeiten in der Uni-Bibliothek zu sehen. Der Eintritt ist frei. Ein Zeitzeuge ist als Ansprechpartner in der Ausstellung zu folgenden Terminen anwesend: mittwochs, den 19. und 26.Februar von 11 bis 14 Uhr und donnerstags, den 20. und 27. Februar von 11 bis 15 Uhr.

www.suub.uni-bremen.de

Älterer Mann erzählt und ringt die Hände
Deckblatt der Akte Gertraude Küchelmann